Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
Vom Netzwerk:
Bilder jungen Freunden zu zeigen, Proust zum Beispiel, Charles, der mit Sinnesschärfe und Aufrichtigkeit über Objekte und Bildhauerei schreibt, der die Welt der Dinge lebendig macht. Das weiß ich. So habe ich zum ersten Mal Berthe Morisot zu sehen gelernt, ich habe gelernt, ein wenig zurückzutreten und dann wieder nach vorn. So habe ich Massenet hören gelernt, Savonnerie-Teppiche betrachten, habe erfahren, dass es lohnend ist, sich mit japanischen Lackarbeiten zu beschäftigen. Eines nach dem anderen von Charles’ Netsuke nehme ich in die Hand und denke dabei daran, wie er sie ausgewählt hat. Und ich denke an seine Zurückhaltung. Er gehört zu jener Pariser Glitzerwelt, aber er bleibt nach wie vor russischer Bürger. Er behält dieses geheime Hinterland.
    Charles hatte ein schwaches Herz, wie sein Vater. Er war fünfzig Jahre alt, als Dreyfus von der Teufelsinsel zurückgebracht wurde, um die Farce seines zweiten Gerichtsverfahrens durchzustehen und 1899 neuerlich verurteilt zu werden. In dem feinen Stich, den Jean Patricot in jenem Jahr von Charles anfertigte, blickt er nach unten, nach innen, sein Bart ist immer noch adrett gestutzt, seine Krawatte ziert eine Perle. Er beschäftigt sich nun mehr mit Musik und unterstützt die Societe des Grandes Auditions Musicales der Comtesse Greffulhe, »wo sein Ratschlag sehr gewürdigt wird und wo er mit Hingabe an der Arbeit ist«. Er hat beinahe aufgehört, Bilder zu kaufen, außer einen Monet, die Felsen in Pourville an der Küste der Normandie bei Ebbe. Es ist ein schönes Bild, im Vordergrund nass glänzende Felsen, Holzstangen der Fischer ragen aus dem Meer und fügen sich zu seltsamen Kalligraphien. Mir kommt es ziemlich japanisch vor.
    Charles schrieb nun auch weniger, obwohl er seine Pflichten bei der Gazette gewissenhaft wahrnahm; er sprach sich klar dafür aus, was veröffentlicht werden sollte, »war niemals zu spät, stets penibel bis in die kleinsten Details jedes Artikels, immer auf der Suche nach Vollkommenheit«, engagierte immer neue Beiträger.
    Louise hatte einen neuen Geliebten. Charles wurde von Kronprinz Alfonso von Spanien ausgestochen, dreißig Jahre jünger als sie, mit fliehendem Kinn, aber immerhin: ein zukünftiger König.
    An der Schwelle zum neuen Jahrhundert sollte Charles’ Cousin in Wien heiraten. Charles kannte Viktor von Ephrussi seit Kindertagen, als die ganze Familie beisammen gewohnt hatte, alle Generationen unter einem Dach; an den Abenden hatte man den Umzug nach Paris geplant. Viktor war der gelangweilte kleine Junge, sein jüngster Cousin, für den Charles Karikaturen der Bediensteten gezeichnet hatte. Der Clan pflegte einen engen Zusammenhalt, sie hatten einander bei Gesellschaften in Paris und Wien, in den Ferien in Vichy und St. Moritz, bei Fannys sommerlichen Zusammenkünften im Chalet Ephrussi gesehen. Und gemeinsam war ihnen beiden Odessa - die Stadt, in der sie geboren waren, der niemals erwähnte Ausgangspunkt.
    Die drei Brüder in Paris schicken Hochzeitsgeschenke an Viktor und seine junge Frau, die Baronesse Emmy Schey von Koromla. Das Paar wird sein neues Leben im riesigen Palais Ephrussi an der Ringstraße beginnen.
    Jules und Fanny schicken einen schönen intarsierten Louis-XVI-Tisch mit schmal zulaufenden Beinen, die in kleinen vergoldeten Hufen enden.
    Ignaz schickt einen Alten Meister, holländisch, zwei Schiffe im Sturm. Vielleicht ein verschlüsselter Scherz über die Ehe von einem, der bisher jeder Verpflichtung aus dem Weg gegangen ist.
    Charles schickt etwas Besonderes, ein spektakuläres Etwas aus Paris: eine schwarze Vitrine, die Borde mit grünem Samt ausgelegt, und verspiegelter Rückwand; darin spiegeln sich 264 Netsuke.

TEIL ZWEI
     
    Wien 1899-1938
     
    Die Potemkinsche Stadt
     
    Im März 1899 wird Charles’ großzügiges Hochzeitsgeschenk für Viktor und Emmy sorgfältig in eine Kiste verpackt und aus der Avenue d’Iena geschafft; es nimmt Abschied vom goldfarbenen Teppich, von den Empire-Fauteuils und den Moreaus. Es reist quer durch Europa und wird im Palais Ephrussi in Wien, Ecke Ringstraße/Schottengasse, abgeliefert.
    Nun ist die Zeit vorüber, mit Charles spazieren zu gehen und über Pariser Inneneinrichtungen nachzulesen; jetzt sind die Neue Freie Presse und das Wiener Straßenleben um 1900 an der Reihe. Es ist Oktober, und mir fällt auf, dass ich beinahe ein Jahr mit Charles verbracht habe - weit länger, als ich für möglich hielt, allzu viele Zeitstränge sind für Recherchen über

Weitere Kostenlose Bücher