Der Hase mit den Bernsteinaugen
die Dreyfus-Affäre draufgegangen. Wenigstens brauche ich in der Bibliothek nicht die Etage zu wechseln: Französische und deutschsprachige Literatur sind nebeneinander aufgestellt.
Neugierig, wo mein Wolf aus Buchsbaumholz und mein Elfenbeintiger hinkommen werden, buche ich ein Ticket nach Wien und mache mich auf zum Palais Ephrussi.
Dieses neue Heim der Netsuke ist absurd riesig. Es sieht aus wie eine Fibel zum Thema klassische Architektur; daneben würden sogar die Pariser Häuser der Ephrussi bescheiden wirken. Das Palais hat korinthische Pilaster und dorische Säulen, Urnen und Architrave, an den Ecken vier kleine Türme, Reihen von Karyatiden unter dem Dach. Die ersten beiden Stockwerke weisen mächtiges Rustika-Mauerwerk auf, darüber sind zwei Stockwerke aus blassrötlichen Ziegeln, hinter den Karyatiden im fünften Stockwerk Stein. So viele der gedrungenen, unendlich geduldigen griechischen Mädchen mit den halb von der Schulter gerutschten Gewändern stehen da oben - dreizehn an der langen Breitseite zur Schottengasse hin, sechs an der Front zur Ringstraße -, dass es ein wenig so wirkt, als wären sie an einer Wand zu einem gravitätischen Tanz aufgereiht. Ich kann dem Gold nicht entkommen: viel, viel Gold an den Kapitellen und Balkonen. Auf der Fassade glitzert sogar ein Name in Gold, aber das ist verhältnismäßig neu: Das Palais beherbergt derzeit die Zentrale der Casinos Austria.
Auch hier führe ich meine Hausbeobachtung durch. Oder besser, ich habe es versucht, aber gegenüber dem Palais ist nun eine Straßenbahnhaltestelle oberhalb einer U-Bahn-Station, und ständig strömen Menschen vorüber. Nirgendwo kann ich mich an eine Mauer lehnen, innehalten und schauen. Ich versuche die Dachlinie gegen den Winterhimmel zu fixieren und laufe beinahe in eine Straßenbahn; ein bärtiger Mann in drei Mänteln und einer Sturmhaube staucht mich zusammen, weil ich nicht aufgepasst habe, und ich gebe ihm zu viel Geld, damit er verschwindet. Das Palais steht gegenüber dem Hauptgebäude der Universität Wien, wo eben drei Protestkampagnen - gegen die amerikanische Nahostpolitik, gegen Kohlendioxidemissionen, gegen irgendwelche Gebühren - einander an Krach und Unterschriften zu übertreffen suchen. Da kann man sich einfach nicht aufhalten.
Das Haus ist schlicht zu riesig, um es in sich aufzunehmen, es nimmt zu viel Raum ein in diesem Teil der Stadt, zu viel Himmel. Es ist eher eine Festung oder ein Wachturm als ein Haus. Ich versuche seine Größe in den Blick zu bekommen. Das ist sicher kein Haus für den Ewigen Juden. Und dann fällt mir meine Brille hinunter, einer der Bügel bricht am Gelenk, ich muss das Gestell zusammenklemmen, um überhaupt etwas zu sehen.
Ich bin in Wien, durch einen kleinen Park hindurch sind es ein paar hundert Meter bis zu Freuds Wohnung, ich stehe vor dem Haus meiner väterlichen Familie - und ich kann nicht klar sehen. Wenn das keine Symbolik ist, grummle ich, während ich meine Brille hochhalte und den rosa Monolith zu fixieren versuche; für mich ein Beweis, dass dieser Teil meiner Reise schwierig werden wird. Es hat mich schon auf dem falschen Fuß erwischt.
Also gehe ich spazieren. Ich dränge mich durch die Studenten und bin an der Ringstraße; nun kann ich mich bewegen und Atem schöpfen.
Allerdings, diese Straße ist so ambitiös, dass einem die Luft wegbleibt, atemberaubend imperial in ihrer Anlage. Sie ist so breit, dass ein Kritiker während der Bauzeit monierte, sie habe eine ganz neue Neurose geschaffen, die Agoraphobie. Wie pfiffig von den Wienern, eine Phobie für ihre neue Stadt zu erfinden.
Kaiser Franz Joseph hatte angeordnet, rund um Wien eine moderne Metropole entstehen zu lassen. Die mittelalterlichen Stadtmauern sollten abgerissen, die Gräben aufgefüllt und ein großer Bogen neuer Gebäude, ein Rathaus, ein Parlament, ein Opernhaus, ein Theater, Museen und eine Universität errichtet werden. Dieser Ring sollte mit dem Rücken zur alten Stadt entstehen und in die Zukunft blicken, ein Ring des bürgerlichen und kulturellen Gepränges, ein Athen, eine Kulmination von Prachtbauten.
Diese Gebäude würden in verschiedenen Baustilen errichtet werden, doch das Ensemble würde das Heterogene in ein Ganzes zusammenfügen, den grandiosesten öffentlichen Raum Europas, ein Ring mit Parks und offenen Flächen; der Heldenplatz, der Burggarten und der Volksgarten würden mit Statuen geschmückt werden, um die höchsten Errungenschaften in Musik, Poesie und Drama
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