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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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eine Kampagne für eine Wiederaufnahme des Verfahrens, die eine heftige und wüste antisemitische Reaktion nach sich zog; die Juden, so hieß es, würden das natürliche Recht außer Kraft setzen wollen. Ihr Patriotismus sei nur vorgetäuscht; wenn sie Dreyfus unterstützten, zeigten sie, dass sie zuerst und vor allem Juden seien, Franzosen erst an zweiter Stelle. Charles und seine Brüder, immer noch russische Staatsbürger, galten als typische Juden.
    Zwei Jahre später tauchten Beweise auf, dass ein anderer französischer Offizier, Major Esterhäzy hinter der Fälschung steckte; er wurde jedoch bereits am zweiten Tag seines Verfahrens vor dem Militärtribunal freigesprochen, die Verurteilung von Dreyfus neuerlich bestätigt. Weitere Fälschungen sollten das Lügengespinst stützen. Trotz Zolas leidenschaftlichem Appell an den Präsidenten, »J’accuse!«, im Januar 1898 in der Zeitung L’Aurore veröffentlicht, wurde Dreyfus 1899 zurückgebracht und ein drittes Mal verurteilt. Zola wurde der Verleumdung schuldig erkannt und floh nach England. Erst 1906 wurde Dreyfus rehabilitiert.
    Zwischen erbitterten Dreyfus-Anhängern und Anti-Dreyfusards taten sich tiefe Risse auf. Freundschaften zerbrachen, Familienmitglieder zerstritten sich, in den Salons, wo bis dahin Juden und Krypto-Antisemiten einander begegnet waren, herrschte eine regelrecht feindselige Atmosphäre. Unter Charles’ Künstlerfreunden war Degas der wüsteste Dreyfus-Gegner, er sprach kein Wort mehr mit Charles und dem jüdischen Maler Pissarro. Auch Cezanne war von Dreyfus’ Schuld überzeugt, und Renoir benahm sich gehässig gegenüber Charles und seiner »jüdischen Kunst«.
    Die Ephrussi waren Dreyfus-Anhänger aus Glauben und Neigung - und weil sie ein öffentliches Leben führten. In einem Brief an Andre Gide im Krisenfrühjahr 1898 erzählt ein Freund, er habe einen Mann seine Kinder vor dem Haus der Ephrussi in der Avenue d’Iena abfragen gehört: Wer wohnt hier? Le sale juifl Der dreckige Jude!
    Ignaz folgten nach einem späten Abendessen auf dem Land vom Nordbahnhof einige Polizisten, die ihn für den exilierten Zola hielten. »Fünf Agenten«, berichtete das Anti-Dreyfus-Blatt Le Gaulois am 19. Oktober 1898, »verbrachten die Nacht mit seiner Beobachtung. Inspektor Frecourt kam am Nachmittag an, um M. Zola, von dem man annahm, er habe bei Ephrussi Zuflucht gesucht, die Vorladung zum Gericht zu überbringen … Wenn er es wagt, zurückzukehren, wird M. Zola dem wachsamen Auge der Polizei nicht entgehen.«
    Die Dreyfus-Affäre war auch ein Familienanliegen: Fanny, die Nichte von Charles und Ignaz, die angebetete Tochter ihrer verstorbenen Schwester Betty, hatte Theodore Reinach geheiratet, einen Archäologen und Hellenisten aus einer prominenten jüdisch-französischen Intellektuellenfamilie. Theodores Bruder, der Politiker Joseph Reinach, war ein Hauptverfechter von Dreyfus’ Verteidigung und verfasste später ein Standardwerk, »Histoire de l’affaire Dreyfus«. Reinach wurde der Blitzableiter für Antisemiten: Drumont versprühte viel Gift und Galle gegen diesen »Inbegriff des unechten Franzosen«. Der »Jude Reinach« verlor bei einem Militärgerichtsverfahren seinen militärischen Rang, man schlug ihn zusammen, als er den Prozess gegen Zola verließ, und er wurde Opfer einer landesweiten bösartigen Verleumdungskampagne.
    Paris hatte sich für Charles verändert. Dem Weltmann wurde jetzt die Tür vor der Nase zugeschlagen, den Mäzen ächteten manche seiner Künstler. Ich stelle mir vor, wie das gewesen sein muss, und erinnere mich, was Proust über den Ingrimm des Herzogs von Guermantes schrieb: »Aber was Swann anbetrifft … soll er, wie ich jetzt höre, sich in aller Offenheit zu diesem Dreyfus bekennen. Niemals hätte ich das von einem Manne gedacht, der solch ein Kenner, ein positiver Geist, ein Sammler, ein Liebhaber alter Bücher, dazu Mitglied des >Jockey< ist, einem Mann, von allgemeiner Achtung getragen, im Besitz hervorragender Adressen, der uns den besten Portwein geschickt hat, den man trinken kann, einem Freund der Künste, einem Familienvater! Ah! Ich muß sagen, ich fühle mich wirklich betrogen.«
    In Paris durchstöbere ich die Archive und schreite meine Wege zwischen den alten Häusern und Büros ab, vagabundiere in Museen herum, einmal ziellos, dann wieder mit allzu genauen Plänen. Ich kartographiere eine Reise in die Erinnerung. Ich habe ein Netsuke eines gefleckten Wolfs in der Tasche. Es ist beinahe zu

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