Der Hauch Des Bösen: Roman
er sie vertreiben konnte. Wenn er mit ihr gestritten hätte, hätte sie sich dem Kampf gestellt. Aber er war auf Distanz gegangen, hatte sie abgewiesen und verletzt, bis sie mit eingezogenem Schwanz davongeschlichen war.
Warte. Warte, bis ich dich das nächste Mal erwische, dachte sie.
Während sie schlaflos im Dunkeln lag, wurde einem neunzehnjährigen Studenten der darstellenden Künste Unsterblichkeit verliehen.
Hochgewachsen, schlank, für alle Zeiten jung, sorgfältig
in Positur gestellt, die schlaffen Glieder von haarfeinen Drähten so gehalten, dass er durch die leidenschaftslose Linse einer Kamera betrachtet möglichst perfekt aussah.
Was für ein Licht! Was für ein starkes Licht. Es hüllt mich ein. Es nährt mich.
Er war brillant, dieser clevere junge Mann mit der Statur des Tänzers und der Seele des Künstlers. Jetzt ist er in mir. Was er war, lebt ewig in mir fort.
Ich konnte deutlich spüren, wie er mit Rachel und mit mir verschmolz. Jetzt sind wir einander näher, als selbst Liebende es jemals sind. Wir sind eine Lebens kraft - mehr als einer von uns alleine ohne die anderen jemals wäre.
Was für ein Geschenk haben sie mir gemacht! Und deshalb habe ich ihnen die Ewigkeit geschenkt.
In ihnen werden keine Schatten sein.
Nur die Verrückten werden dies Verrücktheit nennen. Nur die Blinden werden gucken und nicht sehen.
Ich glaube, bald, sehr bald kann ich den Menschen zeigen, was ich geleistet habe. Vorher aber brauche ich noch zusätzliches Licht. Ich brauche noch zwei mehr, ehe ich mit allen teilen kann.
Auch wenn ich sie natürlich vorher bereits einen kurzen Blick erhaschen lassen muss.
Nachdem alles getan war, was hatte getan werden müssen, wurden Nadine Furst beim Channel 75 ein kurzer Text und ein Foto zugeschickt.
10
Das Schrillen des Links neben dem Bett riss sie aus einem Albtraum. Katapultierte sie aus einer Form der Dunkelheit in eine andere hinein. Zitternd und vor Panik keuchend tastete sie sich über das zerwühlte Laken zum Nachttisch.
»Video aus. Himmel, Licht an, zehn Prozent. Verdammt, verdammt, verdammt.« Eve fuhr sich mit den Handballen über die tränenfeuchten Wangen, atmete trotz des wilden Pochens ihres Herzens tief ein und aus und ging dann an den Apparat. »Dallas.«
HIER ZENTRALE, LIEUTENANT EVE DALLAS.
Sie raufte sich die Haare. »Ja.«
MELDEN SIE SICH UMGEHEND AM LINCOLN CENTER; EINGANG METROPOLITAN OPER. ES GEHT UM EINEN MÖGLICHEN MORD.
»Ist der Ort bereits gesichert?«
JA.
»Schicken Sie auch Officer Delia Peabody dorthin. Ich bin in zirka zwanzig Minuten dort.«
VERSTANDEN. ZENTRALE ENDE.
Sie rollte sich aus dem leeren Bett. Es war beinahe vier Uhr morgens, und immer noch war er nicht aufgetaucht. Sie schwitzte von dem Albtraum, und so stellte sie sich zwei Minuten unter die Dusche, eine Minute in die wirbelnde Hitze der Trockenkabine und fühlte sich danach etwas wacher.
Sie schlüpfte in ihre Kleidung, schnallte sich ihr Waffenhalfter um, steckte ihre Dienstmarke und Handschellen in ihre Jackentasche, machte den Rekorder am Kragen ihres Hemdes fest und hatte das Schlafzimmer schon halb verlassen, als sie plötzlich fluchte, zurück zum Nachttisch stapfte und ein elektronisches Notizbuch aus der Schublade zog.
»Ich habe einen neuen Fall«, erklärte sie. »Keine Ahnung, wie lange es dauern wird.«
Sie dachte an ein Dutzend anderer Dinge, die sie ihm noch sagen wollte, doch es war sinnlos, wenn sie ihm dabei nicht gegenüberstand, und so warf sie das Notizbuch auf das Bett und marschierte aus dem Raum.
Am Straßenrand standen zwei Streifenwagen einander direkt gegenüber, und während auf ihren Dächern das kalte Blaulicht kreiste, hatten die Beamten den Bereich bereits weiträumig abgesperrt.
Der elegante Brunnen, der die breite Terrasse zierte, lag in totaler Stille, und das dahinter befindliche, prachtvolle Gebäude war in dunkle Schatten gehüllt. Sie hatte es geschafft, zehn Jahre in New York zu leben, ohne diese Kathedrale der schönen Künste nur einmal zu betreten. Erst seit sie Roarke begegnet war, war sie eine regelmäßige Theater-, Konzert- und sogar Opernbesucherin.
Wenn man mit einem Mann wie Roarke zusammen war, erweiterte sich, selbst wenn man kein Interesse daran hatte, unweigerlich der eigene Horizont.
Was zum Teufel war nur mit ihm los?
»Lieutenant.«
Sie nickte dem Beamten zu und zwang ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Eine Polizistin durfte kein
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