Der Hauch von Skandal (German Edition)
die Morgenluft. Max sprang gähnend aus seinem Korb und folgte ihr. Sie ging hinunter an den Strand, um sich das Gesicht und die Hände zu waschen. Das Wasser war so eiskalt, dass es ihr den Atem verschlug. Sie fragte sich, wie es wohl sein musste, aus der glühenden Hitze des Badehauses ins Freie zu laufen und sich in das eisige Wasser des Fjords zu stürzen. Sicher konnten das nur die Verrücktesten und Härtesten überstehen. Andererseits hatte sie sich selbst immer für eine zartbesaitete Dame gehalten und doch auf dieser Reise Dinge getan, die die Matronen der Londoner Gesellschaft in Panik nach ihrem Riechsalz hätten schreien lassen.
Ein Knacken ertönte am Strand, und als Joanna den Kopf hob, stockte ihr der Atem. Sie hatte Alex’ strikte Warnungen völlig vergessen; vergessen, dass es in diesem Land mehr als eine Gefahr gab, einen schnellen Tod zu finden. Denn dort war er. Nicht blendend weiß, wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte, sondern eher von einer satten cremigen Farbe. Der Eisbär nahm ihre Witterung auf, drehte den Kopf und sah sie direkt an.
Er war wunderschön. Er war auch riesig und furchteinflößend, aber seine Kraft, Stärke und Anmut hatten etwas seltsam Anrührendes.
Joannas Herzschlag stockte und fing dann an zu rasen. Sie richtete sich auf und stand reglos da, während der Bär näher kam. Er bewegte sich langsam und zielstrebig, ohne den Blick von ihr zu wenden. Sie war wie erstarrt, fasziniert und entsetzt zugleich. Sie wusste, sie sollte etwas tun, weglaufen oder um Hilfe schreien, aber ihre Beine schienen ihr nicht zu gehorchen. Sie öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton hervor. Nur ein heiseres Krächzen entrang sich ihrer ausgetrockneten Kehle.
Hinter ihr ertönte ein Geräusch von Kies, der die leichte Anhöhe herunterrieselte, und sie sah sich um. Alex stand oberhalb von ihr und hielt ein Gewehr in den Händen. Sein Gesicht war totenblass, seine Augen wirkten fast schwarz. Max war bei ihm und sprang laut bellend um ihn herum.
Und der Bär kam näher.
Alex bewegte sich nicht. Der Eisbär war keine fünfzig Meter mehr entfernt. Er sah riesenhaft aus. Als er den Kopf hob, schien er einen Moment lang mit seinen massigen Tatzen auf der Stelle zu tänzeln wie ein Boxer.
Wilde Panik stieg in Joanna auf. Sie versuchte, den Hügel hinaufzustolpern, immer wieder rollten die Steine unter ihren Schuhen weg, sie stürzte. Der Bär war jetzt so nahe, dass sie seinen Atem im Nacken zu spüren glaubte. Sie zitterte so heftig, dass ihr übel wurde.
Alex würde ihr nicht helfen.
Ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Ihre Gedanken überschlugen sich vor Verzweiflung. Und dann hob Alex das Gewehr und feuerte über den Kopf des Bären hinweg.
Der Schuss hallte von den Bergen wider wie ein Kanonenschlag. Der Bär blieb stehen, starrte Joanna eine ihr endlos vorkommende Weile an und trottete schließlich gemächlich davon.
Joanna blieb eine Zeit lang zitternd liegen. Das Haar hing ihr ins Gesicht, und ihr Herz schlug so laut, dass sie es beinahe hören konnte. Dann drehte sie sich auf die Seite, setzte sich auf und sah Alex an. Er war kreidebleich. Er legte das Gewehr zu Boden, und sie sah, dass auch er zitterte.
„Ich konnte ihn nicht töten“, sagte Alex mit seltsam entrückter Stimme. „Ich hätte viel früher auf ihn schießen müssen.“
Joanna sah ihn an, irgendetwas an seinem Tonfall ließ sie innehalten. „Alex …“, begann sie unsicher. Auf einmal setzte die Schockwirkung ein; Joanna fing immer heftiger an zu zittern. Sie wollte ihn anschreien, weil er ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, aber ihre Stimme versagte. Sie wollte ihn schütteln, weil er so lange abgewartet hatte; sie wollte in Tränen ausbrechen. Und doch war da etwas an Alex’ Reglosigkeit, an der fassungslosen Art, wie er in die Richtung starrte, in die der Eisbär verschwunden war, das sie am Reden hinderte.
„Ich habe versagt“, sagte Alex ruhig. Er richtete den Blick wieder fest und eindringlich auf sie. „Ich habe erneut versagt.“ Er sank neben ihr auf die Knie und packte sie so fest bei den Schultern, dass sie zusammenzuckte. „Du hättest niemals mitkommen dürfen. Ich wusste es, du hättest nicht mitkommen dürfen. Als es darauf ankam, konnte ich dich nicht richtig beschützen.“ Er ließ sie abrupt los, stand auf und ging davon.
„Wohin gehst du?“, rief Joanna ihm nach, doch er antwortete nicht. Er drehte sich nicht einmal mehr um.
Die anderen waren durch Max’ Gebell und den
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