Der heilige Schein
verständnisvollen Elternhaus aufgewachsen sei, darunter, dass es während der Ausbildung so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt gebe. Die Benutzung von Mobiltelefonen sei strikt untersagt, Anrufe dürfe man nur einmal am Tag in der Telefonzelle im Schloss erledigen, die Gesprächszeit sei begrenzt auf zehn Minuten. Fernsehen, Radio und Internet seien so sehr von den Linken, Freimaurern, der Pornographie und anderen Feinden des Glaubens unterwandert, dass er verstehen könne, dass diese Dinge im Haus streng verboten seien; aber dass - außer der Deutschen Tagespost und dem Bayernkurier - keine überregionale Zeitung zur Verfügung stehe, finde er im Hinblick auf die zukünftige Seelsorge bedenklich.
Die vielen Gebets- und Betrachtungsstunden sowie weitere Aufgaben im Haus, wie Küchen- oder Putzdienst, führten dazu, dass für das ohnehin knapp bemessene Studium zu wenig Zeit bleibe. Die Bibliothek sei unzureichend ausgestattet, neuere wissenschaftliche Literatur sei kaum vorhanden oder sie werde im »Giftschrank« aufbewahrt, für Seminaristen, bisweilen auch Dozenten unzugänglich. Für eine Aufarbeitung der Vorlesungen sei zu wenig Zeit, der Gebrauch eines Computers - etwa zum Abfassen wissenschaftlicher Texte - verboten. Letzteres verwundert nicht, denn vom Gründer der Piusbruderschaft, Erzbischof Lefebvre, wird berichtet, er habe sich als Alumne des französischen Seminars in Rom noch in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts geweigert, einen Füllfederhalter oder Tintenstift zu gebrauchen, und demonstrativ mit einem Federkiel geschrieben.
Obwohl mich die Schilderung des jungen Seminaristen erstaunte, denn ganz so hatte ich mir die Priesterausbildung nicht vorgestellt, brachte sie mich nicht dazu, die Piusbruderschaft in einem kritischen Licht zu sehen. Damals war ich der festen Überzeugung, dass strenge, autoritär durchgesetzte Askese, verbunden mit einer konsequenten Ablehnung alles Modernen, der sündhaften menschlichen Natur geschuldet und notwendig sei, um reife Priesterpersönlichkeiten heranzuziehen. Dieser Glaube, den ich wegen des Verzichts auf ein normales Leben mit seinen Annehmlichkeiten für extrem heroisch hielt, faszinierte mich enorm, weil er mich an die Heiligen- und Priesterlegenden des 19. Jahrhunderts erinnerte, die ich als Jugendlicher ausführlich studiert hatte. Sie hatten ja auch nicht im Internet recherchiert oder mit dem Kugelschreiber ihre Werke verfasst, sie hatten sich bei Versuchungen in Dornenbüschen gewälzt und zur Vorbeugung fleischlicher Sünden niemals einem ihrer Mitbrüder in die Augen gesehen. So unverständlich das heute klingen mag, aber die Erklärungen, die ich damals von den Verantwortlichen bekam, fand ich überzeugend. So etwa, wenn ein Pater, der Dozent am Seminar war, mich wissen ließ: »Wir brauchen keinen Fernseher oder Computer, unser Fernseher ist der Tabernakel und unser PC das Ewige Licht.«
Erst im Laufe der Jahre, als ich mehrere durch » Tabernakelschauen « gebildete Priester persönlich oder auch durch Publikationen kennengelernt hatte, wurde mir klar, dass die Überregulierung der Ausbildung des Nachwuchses alles andere als geeignet ist, Menschen für diesen anspruchsvollen Beruf auszubilden, der reife Persönlichkeiten verlangt. Zunächst führt die übertriebene, häufig schon in den »kleinen Seminaren« - wie die Internate genannt werden - begonnene Disziplinierung dazu, die Priesteramtsanwärter unmündig und unselbständig zu halten. Die jungen Männer werden ganz bewusst auf der Entwicklungsstufe von Vierzehnjährigen gehalten, damit sie sich später problemlos in ein vorgegebenes System einfügen, das aus Gehorsam und Befehl seine Schlagkraft bezieht. Diese psychische Unselbständigkeit und Abhängigkeit machen einen Ausbruch aus dem System bei eventuell auftretenden Glaubens- oder Lebenskrisen unmöglich. Und solche Krisen sind gerade bei fehlender persönlicher Reife so gut wie vorprogrammiert. Der Pastoralpsychologe Wunibald Müller sieht in dieser Disposition auch einen der wesentlichen Gründe für die zahlreichen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. An die Stelle der Fähigkeit, stets neu zu verantwortende, sich im Laufe des Lebens verändernde Entscheidungen zu treffen, tritt ein angstgesteuertes Duckmäusertum .
Im Hintergrund dürfte, wie bei anderen pädagogischen Konzepten, die überautoritär angelegt sind, ein tiefes Misstrauen gegenüber den zukünftigen Priestern stehen, ein Misstrauen, das sich wiederum aus
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