Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der heilige Schein

Der heilige Schein

Titel: Der heilige Schein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Berger
Vom Netzwerk:
hätte man mich in die Kulissen des Films Geschichte einer Nonne aus den späten 50er Jahren gebeamt.
    Nach einigen Minuten erschien Pater Gaudron . Obgleich schon in verantwortungsvoller Position, war er nur einige Jahre älter als ich. Optisch wirkte er ein wenig wie Michael Ballack, den man in den Talar eines Priesters gesteckt hat. Seine angenehme Stimme, der hessische Akzent, sein ruhiges Auftreten und sein Bubenlächeln machten ihn mir spontan sympathisch. Er führte mich in mein Gästezimmer, das im gleichen Trakt wie auch die Schlafräume der Seminaristen lag.
    Beim Abendessen saß ich an dem Tisch, an dem die Lehrer des Seminars aßen, ein Gespräch war jedoch hier nicht möglich, da - nach langen Gebeten vor dem Essen - die ganze Zeit über in einer Art Sprechgesang aus Alphons von Liguoris Buch Die Herrlichkeiten Mariens vorgetragen wurde. Der 1787 verstorbene heilige Alphons Maria von Liguori gilt als der bedeutendste Moraltheologe der katholischen Kirche.
    Auch mein Versuch, während des Essens einen kommunikativen Augenkontakt mit einem der Priester oder Alumnen aufzunehmen, misslang. Alle aßen sehr schnell und mit gesenktem Blick, um bis zum Läuten des Tischglöckchens , das die Mahlzeit abrupt beendete, satt zu werden. Überhaupt machten die meisten der Geistlichen einen gestressten, beim Auftragen der Speisen und Abräumen des Geschirrs auch aggressiven, unzufriedenen Eindruck. Diese insgesamt bedrückende Atmosphäre bildete einen deutlichen Kontrast zu der äußerlichen Idylle friedlich-harmonischer Katholizität und fiel mir dadurch umso drängender auf.

Erwünschter Tunnelblick
    Mein Zimmer war äußerst spartanisch eingerichtet. Unter religiösen, sehr farbigen Gebrauchsgrafiken des 19. Jahrhunderts sowie einem Holzkruzifix, an dem ein barocker Corpus aus Biskuitporzellan hing, befand sich ein Bett, daneben, unter einem kleinen Fenster, ein Art- Deco -Schreibtisch und ein Stuhl. An Radio, Fernseher oder gar Internet war hier nicht zu denken. Die Welt, die mich sonst umgab, war auf einmal ganz weit weggerückt - ein Zustand, der mir freilich nicht, wie erwartet, tiefe Ruhe bescherte, sondern genau das Gegenteil in mir auslöste.
    Um wieder Luft zu bekommen, machte ich mich auf den Weg zur Seminarbibliothek, um dort den Abend mit Lesen zu verbringen. Aber die Bibliothek war verschlossen, der Zutritt nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Regens und nur zu bestimmten Zeiten möglich. Mein Unwohlsein verstärkte sich, und erst als ich draußen vor dem Schloss einen Weg eingeschlagen hatte, der in eine kleine, mit Apfelbäumen bewachsene Talsenke führte, fühlte ich mich etwas erleichtert.
    Ich war eine gute Viertelstunde gewandert, als ich einem der Seminaristen begegnete, der mir eiligen Schrittes entgegenkam. Ich grüßte ihn, und mir fiel auf, wie gehetzt er wirkte. Wir tauschten ein paar unbedeutende Allgemeinplätze aus, und dann meinte er, er müsse sich beeilen, sonst bekomme er Schwierigkeiten. Er bitte mich auch, möglichst mit niemandem über unser Zusammentreffen zu sprechen und mir in den nächsten Tagen nicht anmerken zu lassen, dass wir uns kennen.
    Mir fehlte jede Phantasie, um diese Bitte irgendwie einzuordnen, aber natürlich war meine Neugierde geweckt. Obwohl es ihn zurück ins Priesterseminar zog, gelang es mir; den Verwirrten in ein Gespräch zu verwickeln. Er erzählte mir, er dürfe jetzt (es war etwa 21 Uhr) überhaupt nicht mehr und schon gar nicht alleine das Seminargebäude verlassen, längst sei Zeit für das große Silentium, bei dem sich jeder Seminarist alleine in seinem Zimmer aufhalten und Gebet und innerer Betrachtung hingeben müsse. Für Spaziergänge gebe es die Rekreation, jeden Tag genau eine Stunde direkt nach dem Mittagessen, in der er nur zusammen mit seinen Mitstudenten die Zeit außerhalb des Hauses verbringen dürfe. Dies gelte unabhängig vom Wetter, und wenn es etwa sehr kalt, sehr heiß oder regnerisch sei, würden sie häufig an der Pforte warten, bis die Rekreation endlich zu Ende gehe und man sie wieder ins Haus lasse. Mein Vorschlag, sich während der Rekreation einfach in die Zaitzkofener Dorfkneipe zurückzuziehen, löste ein müdes Lächeln bei ihm aus: Während des Semesters gelte der Besuch in »fremden Häusern«, zum Beispiel auch Restaurants, gleichsam als schwere Sünde, die die Sammlung störe und die Seminaristen gefährlichen Versuchungen aussetze.
    Überhaupt leide er, der zwar in einem streng katholischen, aber doch

Weitere Kostenlose Bücher