Der heilige Schein
als labil, und sie verbindet die Sehnsucht nach starker Führung durch eine religiös legitimierte Autorität.
Aus der Überregulierung entspringt häufig ein extrem kindisch-vorpubertäres Verhalten, was sich unter anderem daran zeigt, dass über die albernsten Witze gelacht wird. Alles, was mit Körperlichkeit und Sexualität zu tun hat, wird verkrampft angegangen, wobei besonders der Umgang mit dem Weiblichen und mit Homosexualität für überschießende Reaktionen sorgt. Frauen allgemein werden meistens »Weiber« genannt, diejenigen unter ihnen, die dem prüden Keuschheitsideal dieser Gruppen nicht entsprechen, indem sie etwa Hosen tragen oder künstliche Verhütungsmittel verwenden, »Kebsen«. Dieser Sprachgebrauch ist so weit normativ, dass die Gläubigen sogar verpflichtet werden, beim Rosenkranzgebet statt der seit vielen Jahrzehnten üblichen Ave-Maria-Formel »Gebenedeit bist du unter den Frauen« wieder wie vor hundert Jahren »unter den Weibern« zu beten. Die Worte »schwul« oder »homosexuell« bringt man kaum über die Lippen, und wenn, dann häufig nur mit rotem Kopf. Stattdessen ist von »Sodomisten«, den der »widernatürlichen Unzucht Verfallenen«, »Homo-Schweinen« oder »Schwuchteln« die Rede.
Wie wenig sich seit meinem Gespräch mit dem jungen Seminaristen verändert hat, zeigt ein offener Brief, den besorgte Eltern eines Priesteramtskandidaten im Frühjahr 2008 an den Regens des Zaitzkofener Seminars schickten. Darin schreiben sie: »Als Wichtigstes monieren wir (...) eine fast als drakonisch zu bezeichnende Überregulierung, Überverplanung und Überstrukturierung des Tagesablaufes. (...) Wenn hier keine Korrekturen erfolgen, kann das dazu führen, daß sich (...) eine selbstlaufende Spirale des Röhrenblicks, der Stallblindheit, der Wagenburgmentalität und am Ende des (dann bereits pathologischen) Tunnelblicks in Gang setzt.« [12]
All das sah ich zum Zeitpunkt meines ersten Vortrags vor den Piusbrüdern wie gesagt noch nicht in seiner ganzen Problematik. Meine scharfe Kritik an Karl Rahner kam bei den Priestern sehr gut an, und die Bestätigung, die meine jugendliche Eitelkeit dadurch erhielt, verstellte mir ebenso den Blick wie der Wunsch, den Jugendtraum einer heilen katholischen Welt um jeden Preis aufrechtzuerhalten.
»Schade, dass es die Hexenverbrennung nicht mehr gibt«
Nun fragt man sich, ob die beschriebene Überregulierung, die bereits vor Jahrhunderten die tridentinischen Seminare der katholischen Kirche prägte, auch die vom Vatikan legitimierte Priesterausbildung bestimmt. Die Erfahrungen, die ich wenige Monate später machen sollte, zeigten, dass das, was ich in Zaitzkofen beobachtet hatte, mit gewissen Abstrichen auch auf andere, im konservativen Geist geführte Ausbildungsstätten übertragbar ist, die von Rom ausdrücklich anerkannt sind und gefördert werden. Des besonderen Wohlwollens Kardinal Ratzingers erfreuten sie sich schon während seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation und zweitmächtigster Mann des Vatikans. Wie das Berliner »Institut St. Philipp Neri« werden solche konservativen Kräfte und Institutionen großflächig in die Kirche zurückgeholt, um das Gesamtklima hin zu einem neuen Konservativismus zu verschieben und die progressistischen, papstkritischen Kräfte zunehmend ins Abseits zu drängen.
Zu Beginn des Jahres 2000 begann ich neben meiner Tätigkeit als Referendar im Schuldienst eine Lehrtätigkeit an der Ausbildungsstätte der »Diener Jesu und Mariens« (Servi Jesu et Mariae, abgekürzt SJM) in der österreichischen Diözese St. Pölten. Die SJM ist eine katholische Priestergemeinschaft, die von dem ehemaligen Jesuitenpater Andreas Hönisch 1988 als Alternative zu den ihm zu liberal gewordenen Jesuiten gegründet wurde. Der neue Orden darf sich seit 1994 mit dem vornehmen Titel »Kongregation päpstlichen Rechts« schmücken. Pater Hönisch führte damals mit ausdrücklicher Zustimmung des Bischofs von St. Pölten, Kurt Krenn, in dessen Diözese ein eigenes Studienhaus zur Ausbildung des Nachwuchses, und sein Orden betreibt dieses auch heute noch unter dessen Nachfolger, Bischof Klaus Küng aus dem Opus Dei.
Ich lehrte im Studienhaus der SJM Fundamentaltheologie und gab eine Einführung in die Lehre des Thomas von Aquin, so dass ich dort in regelmäßigen Abständen und immer für einen längeren Zeitraum mehr oder weniger mit den Alumnen zusammenlebte und noch weitaus mehr als bei meinem einmaligen Aufenthalt in Zaitzkofen
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