Der heimliche Rebell
Nichterscheinen war in sich selbst schon eine Verfe h lung. Offensichtlich vervollständigten Janet und er die Ve r sammlung; Mrs. Birmingham gab ein Zeichen, und die Z u sammenkunft begann.
„Schätze, wir werden nicht zum Sitzen kommen“, murmelte Janet, als sich die Tür schloß. Ihr Gesicht war eine Maske der Furcht; für sie war die wöchentliche Blockversammlung eine Katastrophe, der sie voller Hof f nungslosigkeit und Verzweiflung entgegensah. Jede W o che rechnete sie damit, angeprangert und verstoßen zu werden, aber dazu kam es nie. Jahre waren ins Land g e gangen, und immer noch war sie nicht offiziell fehlgega n gen. Aber das überzeugte sie nur davon, daß sich das Ve r hängnis aufsparte, um schließlich mit großem Hallo über sie hereinzubrechen.
„Wenn sie mich aufrufen“, sagte Allen sanft, „hältst du am besten ganz den Mund. Misch dich auf keiner Seite ein. Je weniger überhaupt gesagt wird, desto besser stehen meine Chancen.“
Sie starrte ihn leidend an. „Sie werden dich zerreißen. Schau sie dir nur an.“ Sie vollführte eine Handbewegung, die den ganzen Raum umschloß. „Sie warten doch bloß da r auf, jemanden fertigmachen zu können.“
„Die meisten von ihnen langweilen sich und wünschen sich nur, schon wieder draußen zu sein.“ Und wirklich lasen eine ganze Reihe von Männern ihre Morgenzeitungen.
„Also nimm’s leicht. Wenn keiner aufspringt, um mich zu verteidigen, schläft das Ganze von selbst wieder ein, und vielleicht komme ich mit einer mündlichen Ermahnung d a von.“ Immer vorausgesetzt natürlich, daß nichts über die Statue vorlag.
„Als erstes steht der Fall von Miß J. E. zur Verhandlung“, verkündete Mrs. Birmingham. Miß J. E. war Julie Ebberley, und jeder im Raum kannte sie. Julie hatte schon unzählige Male vor dem Tribunal gestanden, aber irgendwie schaffte sie es, sich an dem Mietkontrakt festzuklammern, den ihre Familie ihr vermacht hatte. Sichtlich verängstigt und mit weit aufgerissenen Augen bestieg sie jetzt das Arme-Sünder-Podest, ein junges, blondhaariges Mädchen mit langen Be i nen und einem bemerkenswerten Busen. Heute trug sie ein schlichtes, unauffälliges Kattunkleid und Schuhe mit flachen Absätzen. Ihr Haar war zu einem mädchenhaften Knoten zurückgebunden.
„Es ist bezeugt“, verkündete Mrs. Birmingham zeremon i ell, „daß Miß J. E. sich willentlich und wissentlich in der Nacht des 6. Oktober 2114 in ein schändliches Treiben mit einem Manne eingelassen hat.“
In den meisten Fällen war ein »schändliches Treiben Sex. Allen schloß halb die Augen und bereitete sich innerlich darauf vor, die Sitzung über sich ergehen zu lassen. Ein we l lenförmiges Murmeln lief durch den Raum; die Zeitungen wurden beiseite gelegt. Die Apathie verflog. Für Allen war dies der empörendste Aspekt der Blockversammlungen: das lüsterne Verlangen, ein bis ins letzte Detail gehendes G e ständnis zu hören – ein Verlangen, das sich als Rechtscha f fenheit tarnte.
Die erste Frage kam augenblicklich. „War es derselbe Mann wie bei den anderen Gelegenheiten?“
Miß J. E. errötete. „J-ja“, gab sie verlegen zu.
„Sind Sie denn nicht gewarnt worden? Hat man Sie nicht hier in eben diesem Raum ermahnt, zu schicklicher Stunde nach Hause zu kommen und sich wie ein braves Mädchen zu führen?“
Aller Wahrscheinlichkeit nach war das jetzt ein anderer Frager. Die Stimme war synthetisch, und sie drang aus e i nem Wandlautsprecher. Um den Nimbus der Gerechtigkeit zu wahren, wurden die Fragen durch einen Sammelkanal geleitet, elektronisch zerlegt und ohne charakteristische Klangfarbe neu zusammengefügt. Das Ergebnis war ein u n persönlicher Ankläger, der, falls einmal ein mitleidiger Fr a ger auftrat, unversehens und mit stets leicht befremdlichem Effekt zum Verteidiger wurde.
„Und was soll das für ein schändliches Treiben gewesen sein?“ fragte Allen. Wie immer war er zutiefst erschüttert und aufgewühlt, seine Stimme tot und bar aller Eigentü m lichkeiten durch den Raum schallen zu hören. „Vielleicht ist das alles nur viel Lärm um nichts.“
Auf dem Podest spähte Mrs. Birmingham angewidert in die Menge hinab, um den Fragesteller ausfindig zu machen. Dann las sie aus ihren Unterlagen vor: „Es ist bezeugt, daß Miß J. E. willentlich in der Badewanne des Gemeinschaft s waschraumes ihrer Wohneinheit – unserer Wohneinheit – kopuliert hat.“
„Das is’n Ding“, sagte die Stimme, und dann war die Meute los. Die
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