Der heimliche Rebell
frei.“
„Was für ein tüchtiger kleiner Gentleman“, sagte die Stimme ätzend, aber die Retourkutsche folgte sofort. „Mit Manieren genug, Persönliches aus der Sache herauszuhalten. Bravo!“ sagte sie. „Gib’s ihm nur richtig. Oder ihr.“ Und dann formte sich aus dem Chaos der widerstreitenden Ge i ster eine klare Tendenz. Nach allem, was Allen erkennen konnte, war es von jetzt an nur noch eine Person, die sprach. „Das ist doch die reinste Farce. Mr. Purcell ist einer unserer angesehensten Mitbewohner. Wie die meisten unter uns wi s sen, liefert Mr. Purcells Agentur einen Gutteil des Materials, das Telemedia für seine Sendungen verwendet. Will man uns ernsthaft einreden, daß ein Mann, der mit der Erhaltung der moralischen Standards unserer Gesellschaft befaßt ist, selbst moralische Mängel aufweist? Was würde das über unsere Gesellschaft im allgemeinen aussagen? Fürwahr ein Paradoxon! Es sind doch gerade solche hochherzigen, dem Dienst an der Gemeinschaft ergebenen Männer, die durch ihr eigenes Beispiel die hohen ethischen Maßstäbe setzen, an denen wir unser Leben ausrichten.“
Überrascht spähte Allen quer durch den Raum zu seiner Frau hinüber. Janet schien selbst verwirrt zu sein. Und da r über hinaus war die Wahl der Worte für sie völlig untypisch. Offensichtlich war der Sprecher jemand anderes.
„Mr. Purcells Familie hält hier seit etlichen Jahrzehnten einen Mietkontrakt“, fuhr die Stimme fort. „Mr. Purcell ist hier geboren worden. Während seines Lebens sind viele Mieter gekommen und gegangen. Wenige von uns haben so lange einen Kontrakt bewahren können wie er. Wie viele von uns waren vor Mr. Purcell hier in diesem Raum? De n ken Sie einmal darüber nach. Der Zweck dieser Zusamme n künfte ist nicht, die Mächtigen zu demütigen. Mr. Purcell steht nicht dort oben, damit wir ihn verspotten und läche r lich machen können. Einige unter uns scheinen sich einz u bilden, es gebe um so mehr Grund, jemanden anzugreifen, je angesehener er ist. Wenn wir Mr. Purcell angreifen, greifen wir unser besseres Selbst an. Und darin liegt kein Gewinn.“
Allen fühlte sich verlegen.
„Diese Versammlung“, fuhr die Stimme fort, „gründet auf dem Gedanken, daß jeder Mensch seiner Gemeinschaft m o ralisch verantwortlich ist. Das ist ein guter Gedanke. Aber seine Gemeinschaft ist auch ihm gegenüber moralisch ve r antwortlich. Wenn sie ihn schon auffordert, vorzutreten und seine Sünden zu bekennen, muß sie auch eine angemessene Gegenleistung dafür erbringen. Sie muß ihm ihre Achtung und ihre Unterstützung geben. Sie sollte begreifen, daß es ein Privileg ist, einen Bürger wie Mr. Purcell auf dem Arme-Sünder-Podest zu haben. Mr. Purcells Leben ist unserer aller Wohlfahrt und der stetigen Verbesserung unserer Gesel l schaft gewidmet. Wenn er einmal in seinem Leben das B e dürfnis verspürt, drei Gläser Wein zu trinken und ein mor a lisch nicht ganz einwandfreies Wort auszusprechen, müßte ihm das, so glaube ich, durchaus gestattet sein. Von mir aus soll er’s ruhig tun.“
Schweigen. Der Raum voller Leute war von frommer Ehrfurcht ergriffen. Keiner wagte zu sprechen.
Auf dem Podest saß Allen und wünschte sich, daß jemand angreifen würde. Seine Verlegenheit war zu tiefer Besch ä mung geworden. Der Lobredner machte einen großen Fe h ler; er sah nicht das ganze Bild.
„Moment mal“, protestierte Allen. „Eines muß hier ganz klar gesagt werden. Was ich getan habe, war falsch. Ich habe kein bißchen mehr das Recht als jeder andere, mich zu b e trinken und lästerlich zu fluchen.“
Die Stimme sagte: „Laßt uns zum nächsten Fall überg e hen. Da scheint ja doch nichts vorzuliegen.“
Auf der Bühne berieten sich die mittelalterlichen Damen kurz miteinander und fällten dann ihr Urteil. Mrs. Birmin g ham erhob sich.
„Die Blocknachbarn von Mr. A. P. erachten es für no t wendig, ihn wegen seines Verhaltens in der Nacht des 7. Oktober zu rügen, meinen aber zugleich, daß in Anbetracht seines bisher einwandfreien Führungsregisters keine disz i plinarischen Maßnahmen angezeigt sind. Sie sind entlassen, Mr. A. P.“
Allen stieg vom Arme-Sünder-Podest und gesellte sich wieder zu seiner Frau. Janet schmiegte sich überglücklich an ihn. „Er sei gesegnet, wer immer es auch war.“
„Ich verdiene es nicht“, sagte Allen aufgewühlt.
„Aber sicher doch. Natürlich verdienst du es.“ Ihre Augen strahlten unbekümmert. „Du bist ein wunderbarer Mensch.“
Nicht
Weitere Kostenlose Bücher