Der Heiratsspezialist
Erschüttert starrte er vor sich hin, auf einen unbestimmten Punkt zwischen dem Foto seiner Frau auf dem Schreibtisch und dem Foto des Bundespräsidenten an der Wand. Sie ist verrückt geworden, dachte er. Die Post-Inspektorin Juliane Hatzle hat einen Knall! Fängt früh damit an, schon mit einundfünfzig! Total verkalkt! Man hätte es sich denken können; welcher Beamte verzichtet schon auf seine Pension?!
»Lesen Sie keine Zeitung?« rief Juliane Hatzle.
»Hier wird gearbeitet!« sagte der Personalleiter kühl.
»Der entführte Amerikaner –«
»Der Millionär, der keiner ist?«
»Das ist er!«
»Ihr – Bräutigam? Frau Hatzle …«
»Ich schwöre es! Bob Brook heißt er. Wir wollten nächste Woche in der amerikanischen Botschaft heiraten.«
»Das haut ja einen Neger um!« Diese Mitteilung traf den braven Beamten tief. »Das übersteigt bei weitem meine Kompetenzen. Das muß ich dem Präsidenten melden. Nur er kann entscheiden, ob die Post … Das muß sogar zum Ministerium nach Bonn gehen! Das kann nur der Minister persönlich entscheiden!«
»Wenn das so ist«, sagte Juliane laut, »dann bleibt alles beim alten. Ich verzichte auf das läppische Geld. Ich werde versuchen, die Lösegeldsumme woanders zu bekommen! Unterstreichen Sie die Aktennotiz: Ich schenke der Post meine Pension!«
»Aber das geht doch nicht!« rief der Personalleiter. »Frau Hatzle, ich bitte Sie …«
»Nein!« Sie legte auf, blickte auf einen Zettel mit Telefonnummern und wählte. Die Bank, bei der sie ihr Gehaltskonto hatte und ein Sparbuch über genau 63.429,17 DM, meldete sich. Sie wurde sofort mit dem Direktor verbunden.
Dieser war selbstverständlich schon über alles informiert. Die Direktion kannte den Fall der Juliane Hatzle, die in den USA ein Millionenvermögen erben würde und in Kürze heiraten wollte, genau. Wenn Juliane auch keine Großkundin war, so sind doch auch die kleinen und mittleren Geldbeweger für eine Bank von Nutzen, und zumal wenn man die Verwaltungsgebühren addiert. Der Direktor war deshalb so höflich, wie alle Bankdirektoren, solange das Konto nicht über eine gewisse stille Kreditlinie überzogen ist.
»Ich brauche 200.000 Mark!« sagte Juliane Hatzle direkt. Große Umschweife kosteten nur wertvolle Zeit. »Rund 70.000 habe ich auf dem Konto; es wären dann nur noch 130.000! Sie kennen mich, Sie wissen, daß ich in Amerika erbe. Ich brauche das Geld noch heute!«
Bankdirektoren sind Überraschungen gewöhnt. Wer täglich mit Geld zu tun hat, den wundert gar nichts mehr. Da kommen Wünsche auf einen zu, die geradezu abenteuerlich sind.
Julianes Forderung zog daher nicht einmal eine Schrecksekunde nach sich. Der Bankdirektor antwortete freundlich:
»Gnädige Frau, darüber sollten wir nicht per Telefon entscheiden. Bitte kommen Sie doch in die Bank, damit wir uns über die Sicherheiten unterhalten können …«
»Die Erbschaft! Sie kennen doch das Testament. Sie haben eine Kopie des Schreibens, das mir der amerikanische Rechtsanwalt geschrieben hat. Das muß doch genügen.«
»Das Erbe ist im Augenblick noch fiktiv.«
»Was ist es?« Juliane Hatzle starrte ratlos auf die Zeitung. Die Forderung der Entführer stand fett auf der ersten Seite.
»Nicht real! Verstehen Sie mich richtig, gnädige Frau: Sie haben geerbt. Unter gewissen Bedingungen.«
»Die ich erfülle. Nächste Woche!«
»Die amerikanischen Erbschaftsgerichte sind eine Sache für sich, gnädige Frau. Es kann sein, daß Sie prozessieren müssen, zum Beispiel, wenn andere Berechtigte auftauchen. Eine geschiedene Frau …«
»Mein Onkel war ledig!«
»Eine – äh – Bekannte, die Rechte anmeldet. Ein der Ehe entsprechendes Verhältnis gilt in den USA …«
»Ich brauche das Geld!« sagte Juliane weinerlich. »Werfen Sie doch einen Blick in die Zeitungen. Da steht es! Der entführte Amerikaner – das ist mein zukünftiger Mann! An ihm hängt alles. Ich meine, nur mit ihm kann ich an das Erbe heran.«
Einen Augenblick war es still auf der anderen Seite. Die Erkenntnis schicksalhafter Verknüpfungen beeindruckt sogar Bankdirektoren.
»Kommen Sie bitte zu mir!« sagte er mit ruhiger Stimme. »Und keine Aufregung, gnädige Frau. Unternehmen Sie nichts Unbedachtes. Wir werden Ihnen selbstverständlich helfen. Ich setze mich sofort mit der Kriminalpolizei in Verbindung und bespreche, wie wir das mit dem Lösegeld handhaben. Ohne Risiko für Sie und Ihren Herrn Bräutigam. Und ohne Risiko für das Geld. Sie wollen das Geld doch
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