Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)
ganzen Vormittag hier wartete, während Carpenter anlegte und sein Kommando übergab, ließ darauf schließen, dass die Sache ernst war und er möglicherweise in echten Schwierigkeiten steckte. Doch er war zuversichtlich, dass der Untersuchungsausschuss, sobald er erst einmal das Dilemma verstanden hatte, in dem Carpenter gewesen war, zu seinen Gunsten entscheiden werde.
»Sag keinen Ton, ehe du was gefragt wirst!«, befahl Tedesco ihm gleich im ersten Augenblick. »Und wenn du antwortest, dann pass auf, dass es knapp und zur Sache ist, keine Abschweifungen! Sowas hassen die Leute hier.«
»Brauche ich denn einen Anwalt?«, fragte Carpenter.
»Das hier ist keine gerichtliche Verhandlung. Nicht heute. Und wenn es zu einer kommen sollte, wird dir die Firma jeglichen nötigen juristischen Beistand liefern. Vorläufig greifst du nur meine Stichworte auf.«
»Was für Strafen drohen mir hier?«
»Disqualifikation, Entlassung aus dem Seedienst. Du würdest dein Patent verlieren.« Tedescos Stimme war frostig. Seine ganze Person strahlte Angewidertheit über den Fall aus, gegen diesen gemeinen Zwischenfall auf See, gegen die Peinlichkeit, dass eine Schiffsmannschaft Anschuldigungen gegen ihren eigenen Kapitän erhoben hatte, gegen die bedauerliche Notwendigkeit, dass ein Mann seines Ranges seine Zeit hier mit einer dermaßen ekligen Lappalie im Oaklandhafen vergeuden musste.
»Was ist mit meinem Grad in der Firma?«
»Das ist eine firmeninterne Angelegenheit. Hier und jetzt handelt es sich um eine Sache der Hafenbehörden. Eins nach dem andern; aber ich denke, ich muss dir nicht sagen, dass es sich nicht eben günstig auf deine Aufstiegschancen auswirken wird, wenn du hier unter Anklage gestellt bist. Aber das bleibt abzuwarten.«
»442-Sache, Nummer 100-939399«, sagte O'Reilly oder so plötzlich weit oben am anderen Ende der Röhre und schlug mit einem Hammer auf den Tisch. »Paul Carpenter, suspendierter Kapitän, tritt vor zur Verhandlung.«
»Aufstehen«, murmelte Tedesco, doch Carpenter war bereits auf den Füßen.
Es war sehr seltsam, so im Mittelpunkt eines Disziplinarverfahrens zu stehen. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der wegen eines kindischen Vergehens abgekanzelt werden soll. Die Übergabe seines Schiffs an Swenson, den ihn ablösenden Kapitän, war peinlich genug gewesen, besonders da Hitchcock und Rennett ihm von der Kuppel her triumphierend zugrinsten, als er seinen Software-Anschluss übergab; aber das hatte wenigstens eine Spur von Dramatik à la Joseph Conrad gehabt und war so erträglicher, von feierlicher Theatralik. Doch hier in diesem absurden rigatoniähnlichen Raum stehen zu müssen, dem Regen zuzuhören, der auf das metallene Dach prasselte, einem feisten stumpfäugigen Bürokraten gegenüber, der ihn nicht einmal anzusehen schien, der aber dennoch die Macht besaß, seiner Karriere zu schaden, ja sogar ihn vielleicht lahmzulegen – das war entwürdigend, es war lächerlich und grotesk.
Einer der Gerichtsbeamten, eine Frau, die wie ein Android aussah, aber anscheinend doch keiner war, erhob sich und leierte monoton eine lange Litanei von Juristenkauderwelsch herunter. Die Anschuldigungen – regelwidriges Verhalten, Pflichtvernachlässigung, Verstöße gegen Vorschriften soundso und soundso. Die Kläger wurden benannt. Seine eigene Besatzung. Gesabber über die vorläufige Stornierung seines Kapitänspatents während der Untersuchung des Zwischenfalls. Und weiter und weiter, fünf Minuten, zehn, voller dumpfer Fachbegriffe, denen Carpenter schon sehr bald nicht mehr folgen konnte.
»Zu Protokoll genommen«, sagte O'Reilly oder O'Brien. »Zurückgestellt zur Beweisaufnahme.« Ein Schlag mit dem Hämmerchen. »Antrag auf 376.5 notiert und abgelehnt. Antrag auf 793f stattgegeben. Termin der Anhörung festzusetzen und Vorladungen zuzustellen.« Ein Klopfen des Hämmerchens, bäng. Und nochmals bäng. »Vertagt.« Bäng.
»So, das war's«, sagte Tedesco. »Du bist jetzt frei und kannst tun, was du willst. Aber verlasse das Gebiet von San Francisco nicht, bis der Fall entschieden ist.«
Tedesco wandte sich zum Gehen.
»Eine Sekunde!«, sagte Carpenter. »Bitte. Was bedeutet das ganze Zeug, das er abgelehnt, beziehungsweise angenommen hat?«
»Ein 376.5 ist die Abweisung aller Beschuldigungen. Routinemäßig vorgetragen und genauso routinemäßig abgelehnt. Ein 793f ist die Entlassung auf Ehrenwort ohne Kautionsstellung. Das bekamst du, weil du bisher noch nie straffällig geworden
Weitere Kostenlose Bücher