Der Henker von Lemgo
Ihr besonnenes Wesen gestattete
es ihr bisweilen, der Älteren Ratschläge zu erteilen. »Der Hohe Rat ist Gott,
sagen alle …«
»Der Hohe Rat kann
nicht gleich unserem Herrn sein. Wäre es so, so würde Gott all unsere Freunde
töten.«
»In der Bibel steht,
es gäbe einen Gott und einen Teufel. Der Hohe Rat jagt alle Hexen und Teufel
und wird dabei von Meister David unterstützt. Der Henker hat auch unsere
Großmutter getötet, und alle sagen, er sei der Teufel!« Hastig wischte sich
Margaretha mit dem Handrücken die Tränenspuren von den Wangen. Die Frage war
schwierig und erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit.
»Wieso glaubst du
den Leuten diese Teufelslüge?« Bei der Erwähnung des Scharfrichters blitzten
Marias Augen plötzlich auf, und sie vergaß ihren Kummer. Das Gespräch nahm eine
neue Wendung und begann sie abzulenken. Rasch rutschte sie höher in die Kissen
und setzte sich der Schwester mit verschränkten Beinen gegenüber. Gespannt hing
sie an deren Lippen. »Meister David ist doch nur der Henker.«
»Aber er sieht aus
wie der Teufel, und die Leute schreien gar furchtbar, wenn sie mit ihm zusammen
im Hexenturm sind.«
Erschrocken presste
ihr Maria die Hand auf den Mund. Ȇber den Turm zu sprechen, hat uns der Vater
verboten«, wisperte sie und schaute ängstlich zur Tür. »Außerdem glaube ich
nicht, dass Meister David der Teufel ist. In Wirklichkeit ist er sanft und
wunderschön, der Teufel aber ist hässlich und stinkt.«
»Und woher weißt du
so viel über Meister David?« Margaretha bekam runde Augen. Argwöhnisch nahm sie
wahr, wie Marias Wangen zu glühen begannen.
»Weil ich mit ihm
gesprochen habe.«
»Duuu …?«
Erschrocken zog Margaretha ihre Hände zurück und rückte von der Schwester ab.
»Aber der Henker ist unrein! Eine böse Krankheit wird dich heimsuchen, und alle
werden dich meiden.«
»Das hat dir die
Mutter erzählt. Der Vater sagt immer, Meister David sei ein echter Saufkumpan,
und beim Kindermachen würde er sich mächtig anstrengen.«
Plötzlich war es
still in der Kammer geworden. Nur das leise Knabbern einer Maus war zu hören.
Auf Margarethas rundem Gesicht spiegelte sich der schulmeisterliche Ausdruck
einer Erwachsenen. Wie immer, wenn sie über etwas nachdachte, bohrte sie sich
mit der Fingerspitze in der Nase. Kritisch beäugte sie Maria. »Du bist in ihn
verliebt, gib es zu«, unterbrach sie dann die Stille.
Maria war bis in die
Spitzen ihrer Haare dunkelrot angelaufen und versuchte, dem Blick der Schwester
auszuweichen. Nervös nestelte sie an der Spitze der Überdecke. »Ich bin nicht
in ihn verliebt«, druckste sie herum, »aber meiner Meinung nach hat er unsere
Großmutter von den Qualen des Feuertodes erlöst.«
»Und deshalb glaubst
du, dass er in dich verliebt ist?«
»Ich bin das erste
Mädchen, dem der Henker zärtlich über die Wange gestrichen hat. Und er hat zu
mir gesagt, dass ich die schönste Jungfer sei, die ihm je begegnet ist.«
Schwärmerisch blickte sie zu dem seidenen Betthimmel hinauf. Noch heute spürte
sie die langen Haare des wilden Mannes auf ihrer Haut, und genau wie damals,
als sie ihm mit flinken Händen die am Pferdeknauf verfangenen Haare entwirrt
hatte, rief die Erinnerung daran ein seltsames Kribbeln in ihr wach. Ein
Kribbeln, das so süß und angenehm war wie frisch gewonnener Honig und sie
schwindlig machte. Sie konnte ihn einfach nicht vergessen. Träumerisch rief sie
sich das männliche Gesicht mit den feurigen Augen ins Gedächtnis. Zu lange
loderte das Geheimnis bereits wie ein Feuer in ihr. Wenn sie jetzt nicht
darüber sprach, würden die Flammen sie unweigerlich verzehren. Sie ergriff
Margarethas Hände. »Hast du ihn denn je von Nahem gesehen, so nah, wie ich ihn
vor mir sah?«
»Bisher erblickte
ich ihn nur in der Sandkuhlen. Meistens verbarg er seine bösen Augen hinter
einer Maske.«
»Eben.« Maria
faltete die Hände über der Brust. Ihr Blick verklärte sich. »Ich allein habe
sein wildes Gesicht gesehen mit der hohen edlen Stirn und den vollen sinnlichen
Lippen, von denen alle Weiber dieser Stadt träumen. Er ist stark wie ein Löwe
und hat Muskeln wie ein Bär.«
Maria erinnerte sich
lächelnd der sanften Träume, die ihr kindliches Herz wie keimende Pflänzchen
umgarnten. Seit jener Begegnung ließ Davids Bild sie nicht mehr los. Vom
Herrgott und ihrem Vater einmal abgesehen, war er der erste Mann, den sie
anbetete. Die Burschen in ihrem Alter dagegen weckten ihr Interesse kaum. Ganz
anders verhielt
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