Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Henker von Lemgo

Der Henker von Lemgo

Titel: Der Henker von Lemgo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Szrama
Vom Netzwerk:
an den Stadtdienern
vorbeigeschlüpft und zu der Kammer im vorderen Giebel gelaufen, die sie sich
mit Margaretha und der jüngsten Schwester Ilsabein teilte. Sie riss die
unterste Lade vom Schrank auf und wühlte zwischen den Kleidern, Seidenstrümpfen
und Spitzen. Als sie gefunden hatte, wonach ihre Finger so eifrig suchten,
kniete sie sich hin und drückte den Gegenstand aufatmend an ihre Brust. Es war
ein kleines, schwarz eingebundenes Buch mit goldenen Lettern. In ihm las sie
immer dann, wenn sie Gottes Beistand benötigte. Im gleichen Augenblick spürte
sie eine Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken blickte sie in die funkelnden
Augen Margarethas.
    »Du weißt, dass dies
mein Buch ist. Der Schulmeister hat das Buch vom wahren Christentum mir
geschenkt, nicht dir.«
    Maria fühlte sich
ertappt und suchte nach einer plausiblen Erklärung. »Es war die Schulmeisterin,
die es dir gegeben hat, nicht er.«
    »Auch das gibt dir
nicht das Recht, in meinen Sachen herumzuschnüffeln. Du versündigst dich.«
Margaretha hatte die Hände ausgestreckt: »Gib es mir zurück, Maria.«
    »Nein, niemals!«
Maria hatte sich von den Knien erhoben, verbarg das Buch listig hinter dem
Rücken und wich langsam vor Margaretha zurück.
    »Nicht du warst
seine Schülerin, sondern ich. Von Rechts wegen ist es somit mein Buch. Es
gehört mir!« Energisch behauptete sie ihren Besitz und stampfte zur
Bekräftigung theatralisch mit dem Fuß auf.
    Die Geschwister
stritten sich tagtäglich mindestens ein Mal. Immer gab die kleinere Margaretha
zuerst nach, da sie von ruhigerem Gemüt war. Auch diesmal neigte sie den Kopf
zur Seite und fragte mit kindlich ernster Miene: »Müssen wir uns eigentlich um das
Buch streiten? Wir sind doch Schwestern. Du bist die Ältere, also erlaube ich
dir auch, es zuerst zu lesen!«
    Maria hielt das Buch
noch immer hinter dem Rücken und zog sich nun rückwärts zum Bett zurück. Mit
angezogenen Beinen ließ sie sich auf der seidenen Bettdecke nieder und
überlegte, ob sie Margarethas Sinneswandel trauen konnte. Ohne die Schwester
aus den Augen zu lassen, begann sie zwischen Spitzenkissen und den selbst
genähten Puppen aus Brokat und bunten Perlen durch die Buchseiten zu blättern. Bedächtig
zeichnete sie mit dem Finger die schwarze Schrift nach und buchstabierte laut,
die Zunge vorwitzig zwischen die leicht geöffneten Lippen geschoben, bis
Margaretha vor Ungeduld zu ihr auf das Bett sprang und sie im gleichen
Augenblick den Atem der jüngeren Schwester an ihrem Ohr verspürte.
    »Eigentlich benehmen
wir uns wie zwei kleine Teufel. Dabei sollten wir auf Vater hören und
zusammenhalten. Wir haben uns doch lieb, und ich will nicht, dass die Büttel
dich wegholen wie den Peter.«
    Mit kindlichem
Gespür hatte Margaretha erkannt, dass nicht das Buch der Grund des Streits war,
sondern Marias verletzte Seele. Sie bekam Angst um ihre ältere Schwester und
strich ihr unbeholfen mit den Fingern durch das lange goldrote Haar. Die
Berührung sollte sie trösten, doch Maria lehnte ihre Wange mit einem Schluchzer
an ihre Schulter.
    Durch Margarethas
Worte waren die Geschehnisse für Maria wieder real geworden. Ihre azurblauen
Augen füllten sich mit Tränen. Mit wundem Herzen dachte sie an den Freund, mit
dem sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte, dessen glühende Blicke stets ihr
und nicht der Knochenhauer-Maria gegolten hatten, die ihn so schändlich
verraten hatte. Als sie an den Schulmeister dachte, ihren gütigen Lehrer,
überwältigte sie die Trauer. »Wie recht du hast, Margaretha«, seufzte sie
weinerlich.
    Sie warf das Buch
auf das Bett und schlang die weichen Arme um den Hals der Schwester. Dann brach
der Schmerz in einem Tränenstrom aus ihr heraus, und sie wimmerte leise. »Die
Büttel haben ihn geschlagen, bis er blutete, und ihn gegen die Wand gestoßen.
Alle Kinder mussten mit ansehen, wie er hilflos vor ihren Füßen auf dem Boden
kroch und nach seiner Brille suchte, und haben ihn dabei verspottet und mit
Füßen getreten. Aber er ist doch unser lieber Schulmeister gewesen! Immer hat
er mich gelehrt, ehrfürchtig zu Gott, unserem Herrn, zu beten und seine Gebote
zu achten. Ich habe Gott angefleht, als sie ihn in schweren Ketten und blutend
aus Lindemanns Diele führten, aber er hat mich nicht erhört. Warum? Wo hat sich
dieser Gott versteckt, der zulässt, dass man jetzt seine Schreie aus dem Turm
bis auf den Marktplatz hinunter hört?«
    Margaretha blickte
ihr mit geröteten Augen überrascht ins Gesicht.

Weitere Kostenlose Bücher