Der Henker von Lemgo
es sich mit der Maria vom Knochenhauer. Die älteren Buben in
der Knüppelschule verdrehten sich nach ihr die Augen, und in der Dunkelheit
drückte sich das frühreife Luder bereits mit ihnen in der Nähe des
Hexentanzplatzes umher und ließ sich von ihnen auf den Mund küssen.
»Jetzt ist aber
genug mit der dummen Schwärmerei!« Noch ehe Maria begriff, was ihr geschah,
hatte Margaretha sie plötzlich mit beiden Händen an den Haaren gepackt und
schüttelte sie heftig. Sie konnte der Begeisterung für den Scharfrichter nicht
das Geringste abgewinnen und versuchte, die Schwester energisch zum Schweigen
zu bringen. »Vielleicht vergleichst du ihn noch mit einem edlen Herrn? Meister
David ist ein blutrünstiges Scheusal. Nicht umsonst warnt uns die Mutter immer
vor ihm. Such dir lieber einen gleichaltrigen Burschen, den du anhimmeln
kannst!«
Der eben noch so
harmonische Frieden zwischen den Geschwistern war jäh zerstört worden. Mit
verzerrten Zügen presste Maria die Hände gegen Margarethas Brust und stieß sie
gekränkt von sich. Dann stand sie mit gerunzelten Brauen und schmalen Augen
über der Schwester und fauchte verletzt: »Ich werde dir beweisen, dass Meister
David kein Scheusal ist. Ich gehe zu ihm und bitte ihn um Gnade für unseren
Schulmeister. So wie damals bei der Hinrichtung der Großmutter.«
Eigentlich wollte
sie die Schwester nur beeindrucken, doch angetan von ihrer eigenen Idee und
begeistert von der Vorstellung, den heimlich Angebeteten auf diesem Wege
wiederzusehen, sprang Maria rasch vom Bett und lief zum Schrank. Bedenkenlos
schlug sie alle Warnungen in den Wind, riss die mit Paneelholz verkleideten
Türen auf und zerrte einen schwarzseidenen ärmellosen Umhang hervor, ein
Kleidungsstück, das sie für gewöhnlich ausschließlich zu ihren sonntäglichen
Kirchgängen und zur Beichte trug. Maria warf ihn sich über die Schultern und
rannte an der Schwester vorbei zur Tür hinaus.
Sekundenlang saß
Margaretha wie versteinert auf dem Bett, dann wurde ihr das Ausmaß der Worte
ihrer Schwester bewusst. »Was hast du vor, Maria?«, rief sie ihr ängstlich
hinterher. »Begehe ja keine Torheit! Ich habe es doch nicht so gemeint!«
Doch Marias Schritte
klapperten bereits die Stufen hinab. Schnell rutschte Margaretha vom Bett und
holte ebenfalls ihren Umhang aus dem Wandschrank. Die Angst um die Schwester
verlieh ihr Flügel. Mit dem Mantel über dem Arm stürzte sie hinter ihr her die
Treppe hinunter. Nur einen Moment lang dachte sie daran, dem Vater Bescheid zu
geben, doch dann hegte sie die Hoffnung, die Schwester noch auf der Diele einzuholen.
Vor Angst klopfte ihr Herz so heftig, dass sie am Treppenabsatz kurz um Luft
ringen musste. Die Last des schlechten Gewissens lag wie ein starker Druck auf
ihrer Brust und löste einen heftigen Hustenanfall aus.
»Maaaria!«, hustete
sie und spie Schleim.
Es war nicht das
erste Mal, dass die Ältere ihren hübschen Kopf durchsetzte und eine Torheit
beging. Und da sie Schwestern waren, die letztlich doch immer treu
zusammenhielten, hatte Margaretha den Vater schon des Öfteren für sie belogen
und Sünde auf sich geladen. Dafür bestrafte sie Gott jetzt mit diesem
hartnäckigen Husten.
Auf der staubigen
Straße vor dem großen Holztor am Dielenausgang blieb Maria stehen und
verschnaufte. Unschlüssig blickte sie die verwaiste Straße hinunter. Wie immer
am Tag der Hinrichtung war die einzige gepflasterte Gasse zum Markt wie leer
gefegt. Vom Marktplatz drangen schon laute Stimmen zu ihr herüber. Seit
Großmutter Salmekes Tod hatte der Vater ihr bei Strafe verboten, jemals wieder
einer Hinrichtung beizuwohnen. Jetzt hielt sie die Furcht und auch das
Versprechen, das sie ihm hatte geben müssen, davor zurück, ihre Idee in die Tat
umzusetzen. Am liebsten hätte sie ihr Wort zurückgenommen, doch als Margaretha
hustend neben ihr auftauchte, fühlte sie sich von Neuem bestärkt, der Schwester
zu beweisen, dass sie nicht nur angegeben hatte und Meister David tatsächlich
ihr angebeteter Held war.
»Warum läufst du mir
nach, Margaretha? Geh wieder ins Haus zurück, sonst bemerkt der Vater noch
unsere Abwesenheit«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Ich will schnell zum
Marktplatz laufen und Meister David suchen.«
Margaretha hob
beschwörend die Hände. Ihre Augenränder und die Nase waren vom Husten gerötet.
»Reitet dich der Teufel, Schwester? Zu Hause wird es Stockhiebe setzen, wenn
der Vater dein Vorhaben bemerkt. Und auf dem Marktplatz werden sie
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