Der Henker von Lemgo
Angst
ohnmächtig in sich zusammensank. Aber dass sie so regungslos und schweigend vor
ihm stand, das hatte er nicht erwartet.
»Maria … bitte sag
etwas«, flehte er leise. Die Stille zermürbte ihn.
Stumme Schreie. Sie
richtete die Augen auf den Boden, als könnte sie dort eine Erklärung finden.
Sie schien keinen Gedanken fassen zu können. Davids Flehen erreichte sie nicht.
Sie fühlte sich so leer und hilflos. Bedeutete dies wirklich das Ende ihres Lebens?
Wo war all die Hoffnung hin? Die Hoffnung, die sie eben noch so zuversichtlich
hatte sein lassen? Warum nur starrten ihr plötzlich die Großmutter Salmeke, der
Schulmeister Beschoren und der Prediger Andreas mit traurigen Augen von den
Wänden entgegen? Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an die glühenden
Liebesnächte mit Hermann? An ihre Kinder? Was sollte aus ihnen werden? Sie
durfte ihnen doch den Schimpf nicht antun, eine verurteilte Hexe zur Mutter zu
haben. Sie brauchten sie doch!
»Nein, David.« Plötzlich
war es ihr, als würde ihre Stimme losgelöst von ihrem Körper sprechen. Eine
Stimme wie aus dem Jenseits. »Ich bin keine Hexe. Gott ist mein Zeuge: Ich habe
nie einem Menschen mit Zauberei ein Leid zugefügt. Aber du wirst mich foltern,
so wie du die Blattgerste gefoltert hast. Ohne Rücksicht auf unsere Liebe.«
»Niemals!«
Unbeherrscht hatte er sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie. »Du bist
von Sinnen! Niemals werde ich demjenigen Menschen Schmerzen zufügen, den ich
von ganzem Herzen liebe.«
Sie hob die Lider.
Ihr Blick war so verloren. »Wenn es so sein soll und Gott es will, wirst du
auch mich töten. Du wirst Cothmann nicht die Genugtuung lassen, auch dich
vernichtet zu haben.«
»Wir könnten
fliehen. Alle Geheimgänge unterhalb des Turms sind mir bekannt. Einflussreiche
Verwandte von mir wohnen in anderen Städten, in denen keine Hexen verbrannt
werden. Komm mit mir, meine Liebste. Noch bin ich stark und kann dich
beschützen.« Ungestüm riss er sie an seine Brust und bedeckte ihr Gesicht mit
Küssen. Willenlos hing sie in seinen starken Armen, Tränen liefen ihr über das
Gesicht. Es waren die seinen.
»Oh, David«, stöhnte
sie unter seinen Küssen. »Aber was würde dann aus uns werden? Du würdest nie
wieder in den Spiegel sehen können, denn du wärst nicht mehr der Henker von
Lemgo. Es würde dich für alle Zeit deine Ehre kosten, gemeinsam mit einer Hexe
zu fliehen. Wir wären auf ewig Gejagte. Niemals würden wir zur Ruhe kommen. Der
Richter besitzt einen großen Einfluss auf den Grafen, dessen Häscher würden uns
überall aufspüren. Und was sollte mit Hermann und meinen Kindern geschehen?
Sollte ich etwa wie eine Hure weiterleben?«
»Wenn du so denkst,
gibt es keine Hoffnung für uns.« Seine Stimme klang tonlos. Enttäuscht schob er
sie einen Fuß breit von sich weg. »Ich kann ohne deine Liebe nicht mehr leben,
Maria!« Verzweifelt suchte er in ihren Augen nach einem letzten Funken
Hoffnung. Er war ein Bettler, ein Kind, das nach einem verlöschenden Stern
griff.
Plötzlich sank er
stöhnend vor ihr auf die Knie und umschlang mit seinen Armen ihren Schoß.
»Maria, verdammt, du wirst sterben müssen. Unehrenhaft als Hexe auf dem
Scheiterhaufen oder durch mein Schwert. Vielleicht als die Letzte in der langen
Hexenliste der Cothmann-Ära. Willst du das wirklich? Vor drei Tagen habe ich
die Blattgerste hinrichten müssen. Sie hat geschrien wie ein Schwein unter der
Axt. Hat gebettelt, Gott angefleht und widerrufen, aber alles war zu spät. Ich
will dich nicht verlieren, Maria. Komm mit mir, bitte, komm zu Verstand!«
Beschwörend redete
er auf sie ein, doch sie sah nur nachdenklich, fast versonnen, auf ihn
hinunter. In einem schier immerwährenden Abschied tauchte sie in seine wilden
Augen ein, sog seine Liebe in sich auf. Eine Liebe, nach der sie sich seit
ihrer ersten Begegnung gesehnt hatte. Einem Impuls folgend, ließ sie sich neben
ihn auf den Boden gleiten. Mit beiden Händen umklammerte sie sein Gesicht.
»Dann nimm mich,
David! Nimm meine Liebe. Das Letzte, was ich dir in diesem Leben geben kann.«
Überrascht blickte
David zur Seite. Ihr Angebot nahm ihm den Atem. Tu es nicht, entwürdige dich
nicht, dachte er, hörte sich aber gleichzeitig mit trockener Kehle fragen:
»Willst du das wirklich?«
»Wenn mir der Tod
gewiss ist, David, dann will ich deine Liebe und deine Leidenschaft mit in den
Tod nehmen! Nimm meinen Körper und streichle ihn so zärtlich, wie du dein
Schwert streichelst,
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