Der Henker von Lemgo
seinem Günstling auserkoren. Ausschlaggebend waren
seine hervorragenden Referenzen und die Abstammung von einer angesehenen
Fürstenfamilie gewesen. An den Großvater, den langjährigen Bürgermeister vor
seiner Zeit, vermochte er sich noch gut zu erinnern, genauso an den Herrn
Bruder der Mutter, einen angesehenen Rechtsprofessor, den er insbesondere für
seine gute Zusammenarbeit schätzte. Leider hatte es der Vater nie zu etwas
gebracht, und Cothmanns Mutter hatte er erst kürzlich als Hexe hinrichten
lassen müssen. Dass der Junge in schweren finanziellen Nöten steckte und er
deshalb das Studium unterbrochen hatte, war für Kerckmann kein Grund, ihm die
Gunst zu entziehen, auch wenn ihn die ganze Stadt seiner Mutter wegen mied. Er
verfolgte seine eigenen Pläne mit dem jungen Mann.
»Bei Regen werden
wir das Gelage im hinteren Saal meines Hauses abhalten. Ihr seid herzlich
eingeladen, Hermann«, antwortete er. Hinter vorgehaltener Hand, sodass nur
Cothmann es hörte, fügte er hinzu: »Die schönsten und wollüstigsten Weiber
werden uns den Abend versüßen!« Plötzlich kündigte ein ungleichmäßiger
Trommelwirbel den Angeklagten an. »Würdet Ihr mir aufhelfen, junger Mann? Die
Pflicht ruft, und das Alter zwickt mich wieder.«
Cothmann tat ihm
unterwürfig den Gefallen und stützte ihn unter dem Arm.
»Es ist ein Graus,
wenn der Geist noch stark ist und der Körper sich bereits der Vergänglichkeit
beugen muss. Aber Gott will es so, um unsere Seelen in sein Reich heimzuholen«,
murmelte der Richter. »Lasst Euch von einem alten Manne raten: Genießt Euer
junges irdisches Leben, Hermann!«
Mit
undurchdringlicher Miene wartete der Richter zwischen Tisch und Richterstuhl.
Stolz und finster blickte er auf seine Untertanen hinab. Seine Gestalt hatte
etwas Drohendes an sich und wirkte respektvoll auf den Pöbel. Als der Lärm
verstummt war, legte sich Totenstille über den Platz. Langsam und würdevoll hob
Kerckmann den Arm und gab dann das Handzeichen zur Eröffnung der Verhandlung.
Der
Trommelwirbel wurde heftiger, und zwischen den Menschen bildete sich eine
Gasse. Allen voran schritt der Trommler, ihm folgten drei Pfarrer und sechs
bewaffnete Henkersknechte. Noch nie hatte es ein so großes Aufgebot für einen
verurteilten Hexer gegeben.
Abgeschirmt vom
Pöbel und im Takt der Schläge wankte der greise Schulmeister Beschoren zwischen
vier baumlangen Knechten. Trotz der schweren Eisen an Händen und Füßen
versuchte er, sich aufrecht zu halten, was ihm aber nur selten gelang. Bei
jedem zweiten Schritt stolperte er über die schwere Kette zwischen seinen
nackten Füßen. Als er vor Entkräftung stürzte und mit dem Gesicht auf das
Pflaster fiel, traten ihn die Henkersknechte unter dem Gelächter der Zuschauer
wieder in den Stand. Doch er hielt sich tapfer. Kein Schmerzenslaut kam über
die aufgeplatzten Lippen, nur ein einziges Mal drehte er das Gesicht seiner Frau
zu, die ihm, ebenso in Eisen gelegt und von zwei Knechten geführt, folgte.
Als der Zug vor der
Tribüne zum Stehen kam, schloss sich schweigend die menschliche Mauer hinter
ihm, und die erste Reihe Schaulustiger drängelte sich neugierig bis vor die
Stadtknechte. Einer von ihnen stieß den Schulmeister mit der Hellebarde in den
Rücken, sodass er nach vorn fiel und kniend und mit gebeugtem Haupt vor dem
Hohen Gericht das Urteil erwartete. Gleichzeitig entstand ein reges
Durcheinander, da einigen von den Schaulustigen die Prozedur zu lang dauerte.
»Fangt endlich an
und macht dem Hexenvolk den Garaus!«, schrien sie johlend. »Wir wollen sie
brennen sehen und keine Pamphlete anhören!« Vor Ungeduld bückten sie sich und
begannen, Beschoren und sein Weib mit Abfällen und Steinen zu bewerfen, doch
ein harscher Befehl des Scharfrichters reichte aus, und sie beugten sich den
Hellebarden und Langspießen der Knechte.
In der kurzen
Verwirrung ließ der Schulmeister seinen Blick über den Platz schweifen. Als er
die Hexenkinder entdeckt hatte, schien es, als würde für einen Moment das Leben
in ihn zurückkehren. Die zuvor noch ausdruckslosen Augen sprachen plötzlich
eine beredte Sprache: Sie schimmerten feucht, und winzige Tränen rannen
Beschoren die hohlen Wangen hinunter. »Meine Kinder«, murmelte er, »Gott
beschütze sie.« In diesem Augenblick hätte er zugestimmt, sich die Eingeweide
aus dem Leib reißen zu lassen, um das kommende Unheil von ihnen abzuwenden.
Ein Schulmeister von
der Detmolder Anstalt, zwei Nonnen, zwei Pfarrer und
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