Der Henker von Lemgo
Moment von den Henkersknechten mit
Stricken auf einer am Boden liegenden Leiter festgebunden wurde.
Beschorens Gattin
lag rücklings auf den Sprossen. Die Knechte achteten genau darauf, dass alles
im richtigen Lot stand und ihre Füße nicht zu tief hingen. Nur noch ihr Kopf am
Leiterende war beweglich, um den Leib, die Füße und die Handgelenke hatten die
Knechte starke Seile gebunden und mit den Sprossen verknotet.
Bisher hatte die
Verurteilte alles teilnahmslos über sich ergehen lassen, doch nun, als die
Knechte ihr Werk begutachteten und hier und da an den Stricken zogen, erwachte
sie aus ihrer Lethargie. Verzweifelt riss sie an den Stricken. »Neiiiin!«,
schrie sie. »Ich will nicht sterben! Ihr Hurensöhne, bindet mich los! Lasst
mich zu meinem Mann! Herr, ich bin uuunschuldig!«
»Es ist immer
dasselbe«, erklärte Berner dem jungen Cothmann ungerührt. »Erst bekennen sie
sich zur Hexerei, und dann, im Angesicht des Todes, sind sie plötzlich alle
wieder unschuldig. Aber genau das will das Volk sehen. Es will sie wimmern
hören und Tränen fließen sehen. Wäre es nicht so, wäre es schnell vorbei mit
unserer Glaubwürdigkeit.« Vertrauensvoll zog er Cothmann näher zu sich heran.
»Nicht nur der Scharfrichter verdient an der Hinrichtung des Hexenmeisters.
Auch wir gehen dabei nicht leer aus.« An Cothmanns Grinsen sah er, dass dieser
ihn verstanden hatte.
Doch hinter der
glatten Stirn vom Studiosus tobten andersgeartete Gefühle. Er verstand es, sie
geschickt vor Berner zu verbergen, als er sich neugierig über den Körper der
Hexe beugte. Kalt und emotionslos glitt sein Blick über sie hinweg, doch als
Margarethes Augen, durch sein Interesse mit neuer Hoffnung erfüllt, verzweifelt
an seinem Gesicht hängen blieben, schien es, als kehre die Erinnerung an die
Vergangenheit zurück, die er zuvor verdrängt hatte. Kaum wahrnehmbar formten
seine Lippen ein Wort, das nur Margarethe verstand: »Mutter!« Anstelle ihres
grauen, kahlen Schädels glaubte Cothmann plötzlich, das weißblonde Haar seiner
Mutter Catharina vor sich zu sehen und die stumme Klage in ihren gebrochenen
Augen, als man sie, kahl und mit Wunden übersät, tot aus ihrem Gefängnis zum
Scheiterhaufen geschleppt hatte. Gleichzeitig aber straffte sich sein junger
Körper, und er schämte sich seiner Schwäche. Berners unausgesprochene Frage
beantwortete er mit einem gleichgültigen Achselzucken. Man hatte ihn
gedemütigt, ihn mit Schimpf und Schande beladen, aber dank seiner mächtigen
Freunde war er nur stärker geworden. Mit undurchdringlicher Miene überließ er
Margarethe ihrem Schicksal. Er würde die Schmach, die ihm in seiner Geburtsstadt
angetan worden war, niemals vergessen.
Hermann Beschoren
stolperte zwischen den Knechten die Treppe hinauf zum Schafott. Obwohl ihm die
glühenden Zangen schon zwei Mal die Besinnung geraubt hatten und ihn jedes Mal
ein Bottich mit kaltem Wasser wieder zu Bewusstsein gebracht hatte, schritt er
die letzten Stufen in seinem Leben aufrecht hinauf. Er nahm weder den
Scharfrichter mit dem Richtschwert noch den Richter und den Priester wahr, der
ihm aus der Bibel vorlas. Sein letzter Blick galt seiner Frau Margarethe. Man
hatte die Leiter neben dem Scheiterhaufen in eine senkrechte Lage gebracht,
sodass er in ihr vor Angst wahnsinniges Gesicht sehen konnte. Ihre Augen
quollen übergroß aus den Höhlen hervor. Schrill schrie sie: »Hermann, hilf
miiir!«
Ein letztes Mal
richtete Kerckmann das Wort an ihn: »Hermann Beschoren, Schulmeister von Lemgo,
ich übergebe Euch nun Eurem höheren Richter.« Er bekreuzigte sich.
Der Schulmeister
blickte zu der herbstlich geschmückten Feldmark hinüber, dann wanderten seine
Augen über die Köpfe der Menschen, die noch vor wenigen Tagen seine Freunde und
Nachbarn gewesen waren. Einen Moment verweilte sein Blick auf dem Mädchen am
Zaun. In ihren wunderschönen Augen spiegelten sich Schock und Hilflosigkeit.
Seine letzten Gedanken galten ihr, als in der Ferne die Glocken der Kirche von
St. Nikolai erneut anschlugen. Dann wurde er von hinten gepackt, die
Knechte zwangen ihn in die Knie und drückten seinen Kopf auf den Klotz. Er sah
noch, wie Meister David mit dem Schwert hoch über ihm zum Schlag ausholte. Die
Schneide blinkte. Ein vorwitziger Sonnenstrahl hatte die Wolken durchbrochen.
Dann ging ein Aufschrei durch die Menge, und sein Kopf fiel nach einem sauberen
Schlag in den Korb.
Als der kopflose
Körper zuckend neben den Klotz sank, hob der Fiskal den Arm.
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