Der Henker von Lemgo
Vater
ihr das niemals verzeihen. Insgeheim betete Maria, dass Margaretha noch auf dem
Marktplatz auf sie wartete. Wäre dies der Fall, so wollte sie auch gern alle
Schuld auf sich nehmen, die sie in ihrem Ungehorsam begangen hatte.
Unsicher, wo genau
sie Margaretha zurückgelassen hatte, entschloss sich Maria für den direkten Weg
durch das Stadttor und rannte los. Die Räder der herrschaftlichen Kutschen
hatten auf dem Rückweg tiefe frische Spuren hinterlassen. Mit beiden Händen
raffte sie die Röcke und sprang federnd über die ausgefahrenen Spurrinnen.
Gelegentlich verlangsamte sie ihren Schritt, um die Pfützen geschickt zu
umgehen. Bei einem Ausweichmanöver stolperte sie unversehens über einen am Wege
liegenden Stein. Nach Halt suchend, ruderte sie mit den Armen, bevor sie mit
einem leisen Schrei der Länge nach hinschlug. Flink rappelte sie sich wieder
auf und merkte dabei, dass ihr der rechte Schuh fehlte. Er war im Schlamm stecken
geblieben und ragte mit dem Absatz nach oben heraus. Maria bückte sich, um ihn
herauszuziehen, als sie plötzlich einen kräftigen Tritt im Kreuz verspürte. Die
Wucht warf sie bäuchlings zurück in die ausgetretene Schmutzlache.
»Wen haben wir denn
da?«, ertönte eine kräftige Männerstimme über ihr, während Maria sich mit dem
Gesicht nach unten wand und der Schlamm ihr Mund und Nase verklebte. Wie
gelähmt verharrte sie einen Augenblick und lauschte. Obwohl sie nichts sah,
fühlte sie instinktiv die Gefahr und wünschte sich, der Vater wäre hier, um ihr
zu helfen.
Doch der Herrgott
hatte sich von ihr abgewandt. Niemand kam zu ihrer Rettung. Stattdessen musste
sie niesen und spuckte mit Lehm vermischten Speichel. Über ihr hörte sie
verhaltenes Atmen, und es roch nach Bier und anderen Ausdünstungen. In banger
Erwartung stützte sie sich auf die Ellbogen, drehte das beschmutzte Gesicht
nach oben und blinzelte. Dann schossen ihr Tränen der Verzweiflung in die
Augen, denn während die Umrisse über ihr langsam Gestalt annahmen, bohrte sich
eine weitere Stimme wie ein Messer in ihr Ohr: »Das ist doch die
Rampendahlsche, das Hexenkind!«
Ohnmächtig und ihren
Feinden wehrlos ausgeliefert, stellte sie fest, dass ihr die verhasste Stimme
bekannt vorkam. Sie gehörte Maria Vieregge. Doch während sie noch darüber
nachdachte, ob wohl eine Handvoll Dreck die Beleidigung rächen könnte, wurde
sie im Genick gepackt und an den Haaren nach oben gerissen. Vor Schmerz verzog
sie das Gesicht, und die ersten Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Das Herz
klopfte ihr zum Zerspringen, doch die Wut auf Maria Vieregge war stärker als
aller Schmerz. Entschlossen rieb sie sich den Schmutz aus den Augen und
blinzelte überrascht in Johann Vieregges feistes Gesicht. Neben ihm standen der
für sein böses Getratsche stadtbekannte Nachbar Jürgen Echtner, ihr Onkel
Heinrich Kaufmann mit der nach alter spanischer Mode herausgeputzten Cousine
Elisabeth und der junge Kornherr Hans Koch, ein spindeldürrer, ewig betrunkener
Zecher.
»Wo wollen wir denn
so schnell hin um diese Zeit?«, grinste Johann Vieregge und stieß Maria mit
einem Stock vor die Brust, sodass sie rücklings in die Arme ihres Onkels fiel.
»Wahrscheinlich zu
den anderen Hexenkindern nach Detmold«, antwortete an ihrer Stelle Koch mit
schwerer Zunge, und alle lachten. Kaufmann schubste sie zurück in Vieregges
Arme.
»Was soll das,
Johann?«, protestierte Kaufmann. »Soll ich mir an der Hexe vielleicht die
Finger schmutzig machen?«
»Kannst sie ja
hinterher mit Bier abwaschen«, höhnte der vierschrötige Knochenhauer und feixte
wie über einen gelungenen Witz. Jetzt drängte sich Maria Vieregge neben Maria
und kreischte mit schriller Stimme: »Na, du Hexenluder! Hu … hu … hu …!«
Aufgekratzt schnitt sie mit den Fingern Grimassen und begann mit seltsam
wiegenden Bewegungen und geschürzten Röcken die Zauberinnen vom Hexentanzplatz
nachzuahmen.
Marias Blick hetzte
von einem zum anderen und blieb zuletzt an Maria Vieregges triumphierenden
Augen hängen. Das Knochenhauerluder hielt sich für schön und zeigte das offen,
doch die etwas zu spitz geratene Nase und die schmalen Lippen ließen das
Gesicht hart erscheinen, was ihm den unbekümmerten Zauber der Jugend nahm,
obwohl sie nur wenig älter war als Maria. Das schwarze, in der Mitte
gescheitelte und am Hinterkopf aufgetürmte Haar unterstrich diesen Eindruck.
»Maria Vieregge,
warum tust du das? Wieso können wir nicht Freundinnen sein?«, versuchte
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