Der Henker von Lemgo
Mund Gott zu den Menschen sprach. Doch er war kein Judas.
Seine braunen Augen ruhten enttäuscht auf ihr. Hatte sie so wenig Vertrauen zu
ihm? Die Gewissheit, dass er sie dem Teufel direkt in den Rachen warf,
schmerzte ihm in seiner Seele. Wäre Maria nicht so wichtig für ihre Mission
gewesen, so hätte er sie niemals damit belastet und mit einbezogen. Zumal die
Herren Kleinsorge und Rullmann sich lange gesträubt hatten, einem Weib Zugang
zu gewähren. Aber nur eine Frau konnte die Schmähschriften sicher unter ihren
Röcken verwahren, und Maria war ihnen von allen Weibern am mutigsten
erschienen. Ihr hatten sie zugetraut, diese gefährliche Aufgabe zu übernehmen.
In seinen Händen
zuckte es. Unschlüssig, die rechte Antwort zu finden, blickte er um sich und
sah direkt in Heinrich Kleinsorges scharfe Augen. Der Bürgermeistersohn stand
nur wenige Schritte von ihm entfernt. Niemand gewahrte die kurzen Blicke, die
sie tauschten.
»Bei Gott, meine
Tochter, ich schwöre Euch, dass kein Verrat auf meiner Seele lastet«, flüsterte
Andreas leise, während er kurz nach Marias feuchten Händen griff. »Vertraut
mir! Mein Handeln wird mir allein von Gott, unserem Herrn, eingegeben. Ich bin
sein Mund und seine ausführende Hand. Gott ist der Tanz, und wir sind seine
Tänzer. Er wird an Eurer Seite sein, meine Tochter, und Euch nicht verlassen.«
Entschlossen wandte er sich ab und verschwand zwischen den rauschenden
Gewändern der Damen.
Wie eine Welle
schlugen Unsicherheit und Verzweiflung über ihr zusammen. Ihr Mut war plötzlich
verschwunden, und Hochwürdens Antwort hatte sie nicht beruhigen können.
Stattdessen fühlte sie sich alleingelassen und betrachtete skeptisch die
Tanzfläche. Angesichts der vielen Paare wurde ihr unbehaglich. Wo sollte sie
beginnen? Sie hatte ja nicht einmal einen Tänzer. Tränen standen ihr in den
Augen. Unauffällig fuhr sie mit der Rechten an ihrem Schenkel entlang. Die
Zettel waren etwas tiefer gerutscht. Am liebsten hätte sie sich der verdammten
Schmähschriften entledigt. Musik setzte ein, und die Tanzpaare nahmen zu beiden
Seiten des Tanzmeisters in einer Z-Form Aufstellung.
»Na, wie ist es,
meine Dame? Darf ich Euch zum Tanze führen, oder habt Ihr schon einen
Begleiter?«
Der Seeräuber war
von hinten an sie herangetreten und schwenkte ausladend das Federbarett,
während er sich mit einem tiefen Kratzfuß vor ihr verneigte.
»Vater? Ihr habt
mich erschrocken!« Noch nie war er ihr so willkommen gewesen wie in diesem
Augenblick. Sie hätte ihn umarmen und küssen können, erlaubte sich aber nur ein
Lächeln. »Ihr seid der charmanteste Kavalier auf dem Ball, mein Vater«,
schmeichelte sie und bot ihm mit einem Knicks den Arm.
»So? Ich glaube
eher, ich habe meine Aufsichtspflicht als Vater verletzt und dich, mein Kind,
zu lange allein gelassen. Also werde ich dir zuliebe das Tanzbein zu einem
dieser neumodischen höfischen Tänze schwingen. Wie heißt er doch gleich?«
»Gavotte, Vater!«
Er hatte sich ihr
gegenüber aufgestellt. »Hoffentlich trete ich dir nicht allzu häufig auf die Füße.
Diese Tänze sind zu kompliziert für mich. Ich bin eben doch ein Brauer und kein
Edelmann.« Cordt verbeugte sich nach der Anweisung des Tanzmeisters, bevor er
auf sie zutrippelte. Sie musste lächeln, als sie ihm die Hand reichte und ihn
in anmutigen Schritttritten umkreiste. »Für einen Brauer macht Ihr Euch aber
ganz gut. Etwas hölzern, aber doch manierlich.«
»Spotte nicht, meine
Tochter. Verstehst du, warum gerade wir eine Einladung zu diesem Ball erhalten
haben, auf den wir doch im Grunde genommen nicht gehören?«
Sie entfernte sich
leichtfüßig von ihm, um gleich darauf wieder graziös auf ihn zuzutanzen. »Freut
Euch doch darüber, Vater. Vielleicht wird Euch dieser Ball die Türen in den Rat
öffnen.«
»Ich glaube eher, du
solltest dich vorsehen, mein Kind, und deine Maske um Mitternacht nicht lüften.
Die Einladungen kamen vom Gastgeber selbst, sicher führt er wieder etwas im
Schilde.«
»Avancieren, meine
Damen, meine Herren!«, krähte es nun in Französisch von der Spitze der
Tanzenden her. Cordt Rampendahl rückte auf und verbeugte sich vor einer schönen
Nonne. Im gleichen Moment erschrak Maria und zog den Schleier höher vor die
Augen. Ihr gegenüber stand der rote Kavalier. Höflich machte er seinen Kratzfuß
und schwebte dann galant auf sie zu. In eleganten Sprüngen umkreiste er sie und
versuchte dabei, einen Blick in ihre Augen zu erhaschen. Als sie mit
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