Der Henker von Lemgo
Ehrgeizlinge und Feinde der Rechtsordnung Lemgos. Wiegen sich
in Sicherheit und glauben, durch die Stellung ihres Herrn Vaters im Rat und den
Zünften, die hinter ihnen stehen, Politik machen zu können. Die Zünfte wiederum
sehen gleichfalls ihre Chancen gekommen. In ihnen gibt es Leute, die in den Rat
streben und die mir nicht behagen. Zum Beispiel dieser Deche, der uns
unangenehm aufgefallen ist, wie heißt er doch gleich …?«
»Rampendahl, Euer
Hochwohlgeboren«, antwortete Berner flink.
»Den müssen wir
unbedingt im … Auge … behal…« Die letzten Worte gingen in einem heftigen
Hustenanfall unter. Der Bürgermeister hatte sich an seiner eigenen Spucke
verschluckt. Nach Luft ringend, ruderte er wild mit den Armen. Während Berner
wie ein aufgescheuchtes Huhn um den alten Freund herumtanzte und ihm eifrig mit
dem Fächer Luft zuwedelte, verhielt sich Cothmann abwartend. Erst als Kerckmann
stoßweise atmete und seine Lippen blau wurden, schob er Berner zur Seite und
beugte sich über den Greis. Mit der Linken öffnete er ihm den hochgeschlossenen
Spitzenkragen, während er ihm mit zwei Fingern der Rechten den Schleim aus dem
Rachen entfernte. Er winkte David zu sich, der herbeieilte und den Brustkorb
des Bürgermeisters zu kneten begann. Dabei bewegte er dessen magere Arme wie
eine Pumpe auf und ab, bis sich sein Oberkörper aufbäumte und er aufs Parkett
spie. Stöhnend und mit einem leichten asthmatischen Röcheln lehnte sich der
Bürgermeister im Sessel zurück. Rasch öffnete Cothmann nun auch die oberen Knöpfe
vom Wams, um ihm das Atmen zu erleichtern. Als sich sein Ohr nahe genug an den
greisen Lippen befand, wisperte Kerckmann: »Euch, mein Sohn, das schwöre ich,
so lange wird Gott mir noch beistehen, Euch werde ich in Amt und Würden
bringen. Und wenn dies meine letzte Tat auf Erden ist. Denn Ihr, Cothmann, seid
der einzig fähige Mann für das Bürgermeisteramt!«
In seinem Versteck
schickte Andreas einen Blick gen Himmel und bekreuzigte sich. »Der Herr sieht
und hört alles, und kleine Sünden straft er sofort«, murmelte er und grinste.
Er bedauerte es zutiefst, dass er das Gespräch nicht weiterverfolgen konnte,
denn der Kapellmeister stand mit erhobenem Taktstock vor dem kleinen
Hoforchester, das der Gastgeber extra vom Schloss Brake hatte kommen lassen. Am
Rand der Tanzfläche wirbelte der Tanzmeister hin und her und ordnete im
französischen und italienischen Akzent die Paare.
»Jetzt ist es so
weit«, flüsterte Andreas Maria zu und ließ aufmerksam die Augen umherwandern.
Als er feststellte, dass die Luft rein war, verließ er sein Versteck und zog
sie hinter sich her zur Tanzfläche. Dann drehte er sich hastig nach ihr um. »Ab
jetzt liegt alles in Euren Händen, meine Tochter. Mir ist das himmlische
Tanzvergnügen nicht vergönnt. Kurzweil dieser Art ziemt sich nicht für einen
Geistlichen. Habt Ihr die Zettel?«
»Ja, sie sind unter
meinem Rock, im Strumpfband.«
»Dann macht Eure
Aufgabe gut, mein Kind. Der Herr beschütze Euch.«
»Ihr lasst mich
allein, Hochwürden?« Sie versuchte, seine Hände zu fassen, doch Andreas entzog
sie ihr, obwohl es ihn schmerzte, sie schutzlos der Gefahr auszuliefern.
»Geht zu Eurem
Vater. Er hält bereits Ausschau nach Euch, meine Tochter. Ich werde in Eurer
Nähe bleiben und für Euer Wohl beten.« Unauffällig schlug er das Kreuz über
ihr.
»Aber was ist, wenn
man mich entdeckt?«
»Wir sind bei Euch
und werden dann entsprechend eingreifen. Wenn Ihr Bedenken habt, dann, in
Gottes Namen, möchte ich Euch zu nichts zwingen.«
»Nein, nein.« Maria
schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe mir alles gut überlegt. Seht her,
Hochwürden!« Sie wies auf den Schlitz in dem aus schimmernder Spitze
gearbeiteten Rock. »Es gibt viele Möglichkeiten, um die Zettel zu verteilen.
Auf den Tischen, in den Taschen meiner Tänzer oder auf den Tabletts der Diener.
Es ist nur …«
»Was ist, meine
Tochter?«
»Mich beschäftigt
noch eine wichtige Frage, die einer Antwort bedarf. Der Herr möge mir
verzeihen.« Ergeben deutete sie einen Knicks an und bekreuzigte sich. »War es
ein Zufall, dass Ihr mich auf dem Freien Hof gefunden habt? Oder war alles ein
geplantes Komplott der Herren Kleinsorge? Verzeiht mir, wenn ich Euch
misstraue. Doch es lauert vielleicht der Tod auf mich, und ich sehe meine
Beschützer nicht, nur Euch, Hochwürden.«
Ihre Worte trafen
ihn mitten ins Herz. Schon längst war er kein Pfarrer mehr, sondern ein
Kämpfer, durch dessen
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