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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
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sehen.«
    Marie-Anne hatte sich wieder einmal mit ihrer Schwester zerstritten. Plötzlich stand sie in der Küche und kochte eine Erbsensuppe. »Zum Glück bin ich wieder da«, sagte sie, »ohne mich läuft hier ja gar nichts. Ihr lasst die Zügel schleifen. Und ausserdem gehört Gabriel aufs Schafott. Er kann nicht den ganzen Tag Klavier spielen.« Sie servierte die Suppe.
    »Gabriel ist den schönen Künsten zugetan«, sagte Charles und rührte entnervt in seiner Suppe.
    »Damit verdient man kein Geld«, ereiferte sich Marie-Anne, »der Henkersberuf ist einer der sichersten Berufe in unserem Land, weil es immer einen Henker brauchen wird.«
    »Eines Tages«, sagte Gabriel, »wird die Todesstrafe abgeschafft, und wir werden keinen Henker mehr brauchen.«
    »Diesen Tag wirst du nicht mehr erleben«, schrie Marie-Anne. »Robespierre wollte die Todesstrafe abschaffen. Es ist ihm nicht gelungen. Wem soll es also gelingen?«
    »Lass ihn doch endlich in Ruhe«, sagte Henri dezidiert. »Er will nun mal nicht Henker werden.«
    »Misch dich nicht ein«, herrschte ihn seine Mutter an, »du hast bloss Angst, die Nachfolge deines Vaters …«
    »Hört jetzt auf zu streiten«, sagte Charles und klopftemit der flachen Hand energisch auf den Tisch. »Henri wird mein Nachfolger in Paris, das ist beschlossen, und wenn Gabriel will, werde ich ihm in einer anderen Stadt ein Amt besorgen, aber wenn er nicht will …«
    »Er soll wenigstens ein einziges Mal auf das Schafott steigen, dann weiss er, ob er es wirklich nicht will.«
    »Wieso bist du überhaupt zurückgekommen? Niemand hat dich vermisst«, sagte Charles.
    »Ich bin immer noch die Mutter«, sagte Marie-Anne trotzig, »ob es euch passt oder nicht.«
    »Nun gut«, sagte Gabriel und schob seinen Teller beiseite, »hört auf zu streiten, ich werde morgen Abend aufs Schafott steigen«.
    Draussen fiel der erste Schnee. Ein beissender Wind blies zwischen den Fensterritzen ins Haus. Desmorets entfachte ein grosses Feuer im Kamin. Und Charles setzte sich mit Gabriel ans Klavier.
    Die Dunkelheit war bereits angebrochen, es begann leicht zu schneien. Fackeln beleuchteten das Schafott und tauchten die Hinrichtungsstätte in ein gespenstisch flackerndes Licht. Charles vermied es, Pater Gerbillon anzuschauen. Erst als sie das Schafott erreicht hatten, trafen sich ihre Blicke. Charles half ihm beim Aussteigen. Gabriel stieg als Erster unter dem Applaus der Zuschauer die Treppe zum Schafott hoch. Zuerst wurden gemäss Protokoll die Assignatenfälscher nacheinander guillotiniert. Charles blieb unten an der Treppe stehen und schaute zu seinen Söhnen und Gehilfen hoch. Als Gabriel den Kopf eines Hingerichteten der Menge zeigte, führte Charles einen Journalisten auf dasSchafott und stieg wieder hinunter. Jetzt traf ihn der Blick von Pater Gerbillon erneut. Es war ein trauriger Blick, melancholisch, aber nicht ängstlich. Charles fühlte sich mies, schäbig. Er schämte sich, dass dieser Mann seinetwegen sterben musste. Doch dann versuchte er, sich einzureden, er habe keine andere Wahl gehabt und der Pater habe es ob der Behandlung von Dan-Mali ausserdem verdient. Der Kopf des Journalisten fiel in den Korb. Charles führte nun Pater Gerbillon die Treppe zum Schafott hoch. Kaum hatte er das Schafott wieder verlassen, hörte er die gewaltige Eisenklinge heruntersausen und den Kopf des Jesuitenpaters in den Weidenkorb fallen. Gabriel nahm ihn an den Haaren und hob ihn hoch. Die Menge applaudierte, johlte, lachte, ein Menschenleben hatte keine Bedeutung mehr. Im flackernden Licht der Fackeln bewegte sich Gabriel langsam über das Schafott und schritt es bedächtig ab, als wollte er es vermessen. Doch plötzlich geschah etwas Sonderbares: Gabriel war verschwunden. Als hätte ihn ein Windstoss davongetragen. Er stand einfach nicht mehr auf dem Schafott. Charles schaute hinauf und suchte seinen Sohn. Die Menschen, die um das Schafott standen, begannen entsetzt zu schreien. Sie bildeten einen Halbkreis um den am Boden liegenden Gabriel. Er war in der Dunkelheit vom Schafott gestürzt. Die Haare des Paters waren plötzlich gerissen, und Gabriel hatte mit einer reflexartigen Bewegung den Kopf auffangen wollen. Dabei war er auf den verschneiten Holzbohlen ausgeglitten.
    Charles bahnte sich einen Weg durch die Gaffer und kniete neben Gabriel nieder. Er schob seine Hand unter den Kopf und fühlte sofort, dass das Genick gebrochenwar. »Gabriel«, flüsterte Charles, dann nahm er seinen Sohn in beide Arme

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