Der Henker von Paris
werde zurückkommen.«
Dan-Mali nickte. Charles wusste nicht genau, ob sie alles verstanden hatte. Aber sie wirkte jetzt so ernst, fast ein bisschen traurig, dass er annahm, sie hatte verstanden.
»Ich werde dann wiederkommen«, sagte Charles und fügte zögerlich bei: »Ich werde hier auf Sie warten.« Dan-Mali nickte, legte die Hände vor der Brust aneinander und wippte mehrmals mit dem Kopf auf und ab. Dann schaute sie kurz hoch und sagte etwas schüchtern und verschmitzt lächelnd: »Dan-Mali wartet«, bevor sie den anderen nachrannte.
Die holländische Universität Leiden war in der Tat die führende Hochschule für die medizinische Ausbildung. Die 1575 gegründete Universität ging neue, revolutionäre Wege. Sie führte den Unterricht am Krankenbett ein. In Leiden wurde Medizin nicht von Theologen gelehrt, sondern von Wissenschaftlern und Fachärzten. Und nicht nur Studenten aus ganz Europa drängten nach Leiden, sondern auch vermögende Kranke.
Charles gefiel der Unterricht auf Anhieb. Gemeinsam mit den anderen Studenten folgte er Doktor Lacroix durch die engen Flure des Hospitals. Über den Pockensaal erreichten sie das breite Treppenhaus, das zum dritten Stockwerk führte. Den Wänden des ersten Saals entlang waren unzählige Betten aneinandergereiht. Aus Platzmangel lagen bis zu vier Menschen im gleichen Bett: Kranke, Sterbende, Tote. Man sortierte lediglich die Schwangeren aus. Alle waren zusammengewürfelt, und nach einer Woche hatten alle die gleichen Symptome. Im nächsten Saal lagen die Frischoperierten. Im angrenzenden Saal hatte man die Verrücktenuntergebracht. Diese wurden in Leiden nicht einfach angekettet, sondern untersucht. Das war neu. Doch manche von ihnen brüllten, tobten und schlugen derart um sich, dass keiner auf diesem Stockwerk ausreichend Schlaf fand. Im hintersten Saal wurde operiert. Mit einer Säge wurden Beine amputiert, und die anwesenden Kranken konnten hautnah miterleben, was sie demnächst erwartete. Man praktizierte auch den äusserst schmerzhaften Steinschnitt. Beim Versuch, die plagenden Steine herauszuoperieren, verblutete manch einer selbst nach einem erfolgreichen Eingriff.
An der Universität Leiden verkroch man sich nicht hinter Lehrbüchern und büffelte Theoretisches, hier wurde man in die Praxis versetzt. Doziert wurde am lebenden Objekt. Das Arbeitspensum war enorm, und die jungen Studenten hatten der Reihe nach Hand anzulegen. Jeder hatte hier sein theoretisches Wissen unter fachkundiger Beobachtung anzuwenden. Es wurde operiert und bandagiert. Die Kranken hatten zu ertragen, dass an ihnen herumgewerkelt wurde wie an Puppen. Einige der Studenten hielten sich meist vornehm zurück, andere wurden kreidebleich und setzten sich auf eins der überladenen Betten, als brauchten sie demnächst selbst ärztlichen Beistand. Charles blieb stets in der ersten Reihe. Er konnte Blut sehen. Es irritierte ihn nicht. Es ekelte ihn nie. Es war einfach eine Flüssigkeit im menschlichen Körper, die ab und zu auslief wie Wein bei einem angestochenen Fass. Auch beim Anblick unnatürlich verrenkter Glieder wurde ihm nicht schlecht. Er nahm sie in die Hand wie ein Handwerker, der ein Scharnier zu überprüfen hatte. Er begriff auch schnell die Gesetzmässigkeiten und saugte alles, was er sah oder hörte, auf wieein Schwamm. Die Universität Leiden war nach seinem Geschmack. Er war stolz, hier zu sein. Er war Teil dieser neuen, experimentellen Medizin, die wie die mutigen Seefahrer neue Kontinente erschliessen wollte. Pater Gerbillon hatte recht, dachte Charles, Pech und Glück lagen manchmal nahe beisammen, und ein Schicksalsschlag leitete eine unerwartete Glückssträhne ein.
Doch manchmal ist das Glück von kurzer Dauer, und es folgt erneut ein Rückschlag. Dieser kam in Form eines Briefes von Grossmutter Dubut. Charles erkannte gleich ihre Schrift, die an scharfe Bajonette und Harpunen erinnerte. Der Inhalt des Briefes war eine Kriegserklärung. Sie schrieb, Jean-Baptiste habe einen Schlaganfall erlitten und sei halbseitig gelähmt. Charles müsse sofort nach Paris zurückkommen. Er solle gleich nach Erhalt des Briefes seinen Koffer packen und in die nächste Kutsche steigen.
Charles packte wohl oder übel seine Sachen zusammen und begab sich zur nächsten Poststation. Er verabschiedete sich von niemandem. Bevor er ging, stahl er ein Dutzend leerer Schulhefte. Er tat es spontan. Es passte eigentlich nicht zu seinem Charakter. Er empfand ohnmächtige Wut und stahl, um etwas
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