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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
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Zeichen von Zuneigung, das er jemals von ihr erfahren hatte: ein saftiges Stück Schweinebraten, in Speck gebunden und mit einer cremigen Pilzsauce, die wohl mehr Cognac als Rahm enthielt. Auch dafür liebten ihn die Geschwister, denn auch diesen Genuss bescherte er ihnen mit dem, was er am nächsten Tag zu tun bereit war.
    Nach dem Essen legte sich Grossmutter Dubut hin und bat Charles an ihr Bett. Ihr Verhalten ihm gegenüber hatte sich seit dem Besuch beim Generalprokurator verändert. Sie hatte durchaus registriert, dass er bemerkt hatte, dass sie einst eine Affäre mit dem Beamten gehabt hatte. Das hatte sie in ihrem Stolz verletzt. Sie hatte vor ihrem Enkel das Gesicht verloren. Als zählte sie insgeheim auf seine Diskretion, war sie von da an weniger grob zu ihm gewesen. Auch die Sache mit dem Geld hatte sie gedemütigt, denn auch dies hatte sich in seiner Anwesenheit ereignet. Er hatte erfahren, dass seine gefürchtete Grossmutter ausserhalb derhäuslichen vier Wände bedeutungslos war. Bloss eine alte Frau. Bestimmt war aber auch von Bedeutung, dass Charles nun das Einkommen der Familie sicherte. Bald würde er der Familie vorstehen. Bald würde sie ihre Macht verlieren. Sie schaute ihm lange in die Augen, als versuchte sie, darin etwas zu lesen. Schliesslich ergriff sie seine rechte Hand und gab ihm einen Talisman, der eine geborstene Glocke darstellte.
    »Charles«, sagte sie mit ruhiger und ernster Stimme, »dein Urgrossvater trug diese kleine Silberglocke um den Hals und vererbte sie seinem Sohn. Das ist bis heute Brauch. Die geborstene Glocke ist das Wappen der Sansons. Es ist eine Glocke ohne Klöppel. Es ist eine Glocke, die keinen Ton von sich gibt. Unsere Glocke läutet nie. Es ist die Glocke der Sansons. Egal, wie gross dein Schmerz ist, keiner wird dich hören. Ein Sanson schweigt und tut seine Pflicht.«
    Sie drückte ihrem Enkel das kleine Amulett in die Hand. »Halte es fest«, sagte sie leise. »Wenn du morgen auf dem Schafott stehst, wirst du die Kraft der Sansons spüren. Hab keine Angst, Charles. Unsere Phantasie quält uns mehr als die Realität. Wenn dich trübe Gedanken plagen, wie alle Sansons, dann geh hinaus in die Wälder. Das Reiten und die Jagd haben das Herz all deiner Vorfahren erfreut. Auch die Musik und die Literatur haben manchem Trost gespendet, obwohl ich beides für unnütz halte. Vor allem aber hüte dich vor der Einsamkeit. Sie wurde manchem Sanson zum Verhängnis. Nimm dir deshalb ein starkes Weib. Ein Sanson braucht ein starkes Weib, Charles, denn am Ende sind sie alle gelähmt.«
    »Grossmutter«, sagte Charles leise, »wieso sprichst du so mit mir?« Er ahnte Unheil. In diesem Augenblick wünschte er sich, dass sie da sein würde, wenn er morgen spätabends nach Damiens’ Hinrichtung nach Hause zurückkehrte.
    »Vielleicht hast du mich manchmal gehasst«, sagte sie leise, »du hast mich nie sonderlich gemocht. Doch ich habe den Sansons die Herrschaft über den Thron des Todes gesichert. Jetzt seid ihr unantastbar. Denn von nun an seid ihr für immer die Henker der Könige und die Rächer des Volkes. Du wirst der Grösste aller Sansons. Unter dir werden du und deine Brüder zu geachteten Mitgliedern der Gesellschaft werden. Ich weiss es. Ich habe euch alle gesehen. Du bist der Stärkste und Mutigste von allen. So einen wie dich hat die Dynastie der Sansons noch nicht gesehen.«
    Während sie die letzten Worte sprach, schloss sie die Augen und liess Charles’ Hand los. Er erhob sich leise. Er wollte sie nicht wecken. Er verliess das Schlafzimmer und ging in den Hof hinaus. Dort sass Dominique in der Sonne. Er setzte sich neben sie.
    »Sag mir, Dominique, liegt ein Fluch über unserer Familie?«
    »Ich weiss es nicht, Charles. Ich denke, die meisten Menschen in Paris glauben, dass sie verflucht sind. Denn sie leben in bitterster Armut und ohne Hoffnung. Ich glaube, der Fluch besteht darin, geboren zu werden.«
    »Dann war es also richtig, was Damiens versucht hat.«
    »Ja, Charles, der König lässt sein Volk verhungern. Aber Gott liebt ihn mehr als das einfache Volk von Paris. Er hat den König geschützt und schickt Damiens in den Tod.«
    »Zweifelst du an Gott, Dominique?«
    »Ja, Charles.«
    »Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch keinen Fluch.«
    Dominique nickte.
    »Wenn Vater und Grossmutter nicht mehr sind, dann werde ich das Amt wieder abgeben und Arzt werden, Dominique.«
    Sie spürte, dass er jemanden brauchte, der ihm dafür die Absolution erteilte.

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