Der Henker von Paris
Dies würde ihm die Kraft geben, die Zeit auf dem Schafott durchzustehen. »Ja, Charles, du wirst eines Tages ein guter Arzt werden«, sagte sie und strich zärtlich mit ihrem Finger über seine Faust. Er öffnete sie, Dominique sah das Amulett und lächelte. »Jetzt bist du Monsieur de Paris, Charles.«
»Vorläufig«, sagte er, und es klang wie eine Bitte.
Monsieur de Paris, in der Tat ein hübscher Begriff, aber er war kaum in Einklang zu bringen mit den erschütternden Dingen, die das Gericht Charles zu tun auferlegt hatte. Monsieur de Paris, das klang nobel, elegant, das roch nach edlen Stoffen, Poesie und Mandelseife. Doch am 28. März 1757 sollte es nach verbranntem Menschenfleisch riechen.
Um vier Uhr morgens stieg Charles in die blaue Hose seines Vaters und zog die rote Jacke mit dem gestickten Galgen und der gestickten Leiter an. Den Degen trug er zur Rechten. Den roten Dreispitz setzte er nicht auf. Er hielt den Hut zusammengeklappt unter dem Arm. Mit seinem Onkel stieg er in den ersten Fuhrwagen. Im zweiten Karren sassen fünfzehn Gehilfen in rehbraunen Lederschürzen. Aus allen Teilen Frankreichs hatten sie sich beworben, überwiegendHenker aus anderen Provinzen. An ihren Karren waren vier Pferde gebunden. Es waren kräftige Pferde, denn sie waren ausgesucht worden, um einen Menschen auseinanderzureissen. Die Männer waren auf dem Weg zum Gefängnis.
Langsam wie in einer Trauerprozession setzten sie sich in Bewegung. Sie sprachen kein einziges Wort. Der Morgen graute, Paris erwachte. Von weitem schon sah man die mächtigen runden Türme der Conciergerie. Sie strahlten Autorität und Gewalt aus. Ihre nach oben spitz zulaufenden schwarzen Dächer glichen monumentalen Scharfrichtern, die die Gefangenen bereits erwarteten. In einem dieser Türme wurde Damiens seit bald drei Monaten gefoltert. Dies geschah im Montgomery-Turm, benannt nach dem Grafen von Montgomery, der Henri II bei einem Turnier tödlich verletzt hatte. Charles und seine Gehilfen passierten das wuchtige Eisentor, das in den Hof des Verwaltungspalastes führte. Die Conciergerie war mehr als ein Gefängnis. Hier arbeitete auch das Gericht. So hatten die Richter jederzeit raschen Zugriff auf die Gefangenen, die in den unterirdischen Geschossen der Türme gefoltert wurden. Im Hof standen schwerbewaffnete Polizisten. Der Concierge führte die Henker in einen kleineren Hof, der zur Sainte-Chapelle gehörte. Gemeinsam stiegen sie die schwere, in Stein gehauene Wendeltreppe hinunter, die in die Welt des Schmerzes führte.
Der meistbewachte Mann Frankreichs war im untersten Verlies des Montgomery-Turms untergebracht. Es stank nach Moder und Fäulnis. Die Luft wurde merklich kühler. Das flackernde Licht wirkte gespenstisch. Jeder Schritt hallte wider in diesen engen Gemäuern. Plötzlich erschallteein ohrenbetäubender Schrei. Dann war es wieder so still, dass man sich fragte, ob man tatsächlich den Schrei eines Menschen gehört hatte. Schliesslich standen sie vor einer wuchtigen Zellentür. Damiens’ Verlies wurde von mehreren Gendarmen bewacht. Es stank nach verbranntem Menschenfleisch, als die metallbeschlagene Eichentür aufgestossen wurde. Die Luft im Kerker war heiss, stickig, staubig und presste sich wie eine Faust auf die Lunge. Kein Luftzug verschaffte Linderung. Damiens lag auf einem Folterrost. Man hatte ihn mit Lederriemen derart festgezurrt, dass er sich nicht bewegen konnte. Seit Wochen vegetierte er auf diesem Rost. Darunter hatte man Stroh ausgelegt, um seinen Kot aufzufangen. Doktor Boyer, der Gerichtsarzt, kniete neben ihm und löste die blutdurchtränkten Schafshäute von seinen Beinen. Damiens’ Unterschenkel waren wie Würste am Spiess aufgeplatzt. Das linke Bein war gebrochen und aufs Übelste verrenkt. Am Kopfende sassen vier Soldaten vom Garderegiment und starrten auf den regungslosen Damiens. Doktor Boyer gab einem von ihnen den Befehl, die qualmenden Fackeln durch Wachskerzen zu ersetzen. Er fürchtete, Damiens würde in der stickigen Luft kollabieren und seine Hinrichtung nicht mehr bei vollem Bewusstsein erleben. Mit beinahe väterlicher Fürsorge untersuchte er den Körper des Gefangenen. Der Arzt war dem Gericht gegenüber verantwortlich, dass Damiens lange genug lebte, um alle Torturen zu erleiden, die im Urteil aufgelistet waren. Einer der Soldaten hatte einen Hund dabei. Er fütterte diesen mit speckigem Haferbrei und beobachtete ihn beim Fressen sehr aufmerksam. Nach einer Weile griff er mit drei Fingern in
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