Der Henker von Paris
Er wusste nicht, ob er jemals wieder aufhören würde zu weinen. Ein Menschenleben war zu kurz, um all das Leid, das er heute gesehen hatte, mit Tränen herauszuwaschen. Er liess seinen Tränen freien Lauf, der Schmerz in seinem Innern löste sich. Das Mädchen streichelte sein Glied, bis es sich wieder versteifte, und setzte sich dann rittlings auf ihn. Charles wollte sich erheben, aber sie drückte ihn sanft auf die Matte zurück und stützte sich mit beiden Händen aufseiner Brust ab. In einem langsamen Rhythmus bewegte sie ihr Becken auf und ab. Sie schaute ihm dabei direkt in die Augen und nickte kaum merklich, als wollte sie andeuten, dass nun alles gut sei.
6
Als Charles nach Hause kam, sass sein Vater allein am Küchentisch. Es roch nach angebratenem Speck und Kürbissuppe.
»Hat man dich vergessen?«, fragte Charles.
»Nein«, antwortete Jean-Baptiste, »ich habe darauf bestanden, auf dich zu warten. Du kannst mich nachher ins Bett bringen, aber zuvor will ich mit meinem Sohn ein Glas Wein trinken, denn ich bin stolz auf ihn.«
Charles setzte sich.
»Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du so lange weggeblieben bist«, sagte Jean-Baptiste leise. »Man hat mir schon alles berichtet, einiges ging schief, aber das war nicht deine Schuld. Du hast entschlossen gehandelt und die Beamten der Justiz dadurch beeindruckt.«
»Ich bin auch verantwortlich für die Fehler der anderen.«
»Soubise ist immer besoffen, das war schon vor zehn Jahren so. Ich frage mich, ob er zwischenzeitlich einmal nüchtern war.«
Charles nahm die Weinkaraffe und schenkte zwei Becher ein. Die beiden Männer prosteten sich zu. Als Charles sah, dass sein Vater auch ohne seine Hilfe trinken konnte, trank er seinen Becher in einem Zug leer.
»Wenn du nach getaner Arbeit nach Hause kommst, kannst du Stricke schmieren oder das Schwert schleifen. Das hilft auch. Ich habe immer Stricke geschmiert. Und wenn es nicht gereicht hat, habe ich die alten, gebrauchtenStricke zerschnitten. Du kriegst dafür zehn Sou. Für ein kleines Stück Strick. Da kommt eine Menge zusammen. Ich kenne viele Leute, die mit einem Stück Galgenstrick in der Hosentasche herumlaufen. Sie behaupten, es bringe Glück. Ich weiss nicht, warum. Ich habe ja eine ganze Sammlung von Stricken, und es hat mir kein Glück gebracht. Auf jeden Fall bringt es Frieden in deine Seele, wenn du nach getaner Arbeit Stricke schmierst.«
Charles nickte. Er glaubte Jean-Baptiste kein einziges Wort. Aber er liess ihn reden, schliesslich war er sein Vater. Er schaute kurz auf und hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm ins Gesicht zu schlagen, denn er hatte ihm alles zerstört. Henker zu werden war schlimm genug, sinnierte Charles, aber Dan-Mali zu verlieren, das war zu viel. Sein Vater hatte gut reden, er hatte seine Wünsche durchgesetzt und dadurch das Leben seines Sohnes zerstört.
Jean-Baptiste schien plötzlich betrübt. Er blickte Charles in die Augen, dann senkte er den Kopf und sagte: »Manchmal, wenn ich keine Ruhe fand, ging ich ins Bordell.« Als Charles nicht reagierte, fuhr er fort: »Der Henker von Marseille hat mir einmal erzählt, dass er nach einer Hinrichtung immer ins Bordell geht. Der Druck ist einfach zu stark.« Er zeigte auf die Weinkaraffe auf dem Tisch. »Gib uns noch mal Wein, mein Sohn. Es war für alle nicht einfach. Deine Grossmutter hat mir gesagt, ich solle auf dich warten und dir sagen, dass der Wein für dich ist. Du hast ihn dir verdient. Die Henker von Orléans und Lyon sind renommierte Henker, und sie haben gesagt, dass du einmal ein Grosser wirst. Du hättest die Stärke und die Entschlusskraft, die anderen Menschen fehlen. Die Kraft des Handelns.«
Charles füllte die Becher erneut.
»Aber nicht zu viel, sonst muss deine Grossmutter nachts aufstehen.« Jean-Baptiste lachte. »Sie hat mir schon gedroht, dass sie mich ins Bett pinkeln lässt, wenn ich mir nicht angewöhne, nach dem Abendessen nichts mehr zu trinken. Aber das wäre schlecht für die Nieren.« Er lachte erneut, und jetzt war ihm die ganze Erleichterung über die geglückte Aktion anzusehen. Er war richtig stolz. Aber Charles lachte nicht. Sein Vater hatte gut lachen. Auch dafür hasste er ihn. Und noch mehr hasste er sich selbst, weil er im Bordell gewesen war. Wie sein Vater. Er hatte das getan, was alle Sansons vor ihm getan hatten. Und er hatte es nicht gewusst. War er also doch ein Sanson?
»Lass mich aus deinem Becher trinken«, sagte Jean-Baptiste jovial, »so haben es die Sansons
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