Der Henker von Paris
immer getan.«
»Ich will immer noch Arzt werden«, entgegnete Charles trotzig, »vergiss das nicht. Das ist meine Bestimmung.«
Jean-Baptiste trank aus Charles’ Becher. Dann sagte er: »Charles, wir kennen die Pläne Gottes nicht. Wenn es deine Bestimmung ist, wirst du Arzt werden. Doch vorläufig bist du Monsieur de Paris.«
»Kommissarisch«, sagte Charles und trank mit einem gewissen Widerwillen aus dem Becher seines Vaters.
In den frühen Morgenstunden brachte Charles seinen Vater ins Bett. Dieser schlief im gleichen Zimmer wie Grossmutter Dubut und vier von Charles’ Geschwistern. Die alte Frau war noch wach, sprach aber kein einziges Wort. Jean-Baptiste bat Charles, der Grossmutter gute Nacht zu sagen. Charles ging zu ihr hinüber. Ihr Bett war massig und thronte auf hohen Holzfüssen. Er blieb davor stehen. Es roch nachRosenöl. Die alte Frau kämpfte gegen den Schlaf. Ihr Atem war flach, ihre Haut aschgrau und glänzend vom vielen Bienenwachs, das sie zur Schonung der Haut abends auftrug.
»Von heute an«, flüsterte sie, »ist der König in Gefahr. Alle Welt hat gesehen, wie zerbrechlich die Monarchie ist. Wenn der erste Faden reisst, löst sich der Stoff auf. Es kommt immer einer, der wieder daran reisst, bis das königliche Wams zerrissen ist und der König nackt dasteht.«
Alte Menschen glauben immer, dass die Welt nach ihnen untergeht, dachte Charles, dabei ist es ihr eigenes Leben, das langsam erlischt, der eigene Körper, der langsam zerfällt. Es hat keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge. Er wollte das alles nicht hören. Er hoffte, sie würde noch etwas zu ihm sagen, ihn beglückwünschen, ihm danken, dass er fortan für die Familie sorgte. Doch sie sprach über den König. Sie hatte keine Empfindung für die Seelennöte ihres Enkels. Sie hätte nicht mal einer kranken Katze frische Milch gegeben. Sie hatte das Reich der Sansons gerettet und glaubte wohl, alle Nachfahren müssten ihr auf ewig dankbar sein und ihren Namen ehren. Sie murmelte noch etwas über den König und schlief dann ein. Sie hatte gegen den Schlaf gekämpft, weil sie die Rückkehr ihres Enkels hatte abwarten wollen. Jetzt waren alle zurück. Jetzt konnte sie schlafen. Sie hatte die Herrschaft gesichert. Jetzt brauchte sie nicht mehr zu wachen. Charles schwor sich, am Tage ihres Todes ihrem Bett die Beine zu kürzen.
Die Sonne blendete Charles. Er hatte verschlafen. Als er aufstand, erschien der vergangene Tag in neuem Licht. Er hatte den Applaus zwar durchaus genossen, aber nicht seineMeinung geändert. Sobald einer seiner Brüder alt genug war, wollte er das Henkeramt abgeben und Arzt werden. Er wunderte sich über die plötzliche Klarheit, war ihm doch in der Nacht noch alles unlösbar erschienen. Nur für Dan-Mali gab es keine Lösung. Mit Wehmut dachte er an die kleine Siamesin und ärgerte sich fürchterlich, dass sie ihn beim Ausüben seines Amtes beobachtet hatte. Dann kam ihm Grossmutter Dubut in den Sinn. Merkwürdig, dass sie nicht nach ihm gerufen hatte. Er trat in den Hof hinaus, wo die Geschwister spielten, und wusch sich am Trog. Einer seiner Brüder sagte, dass Grossmutter heute kein Frühstück gemacht habe.
»Oh«, scherzte Charles, »sie vergisst ihre Pflichten. Dann muss sie aber todkrank sein.«
Er ging ins Haus zurück und klopfte an die Schlafzimmertür. Jean-Baptiste lag im Bett und las eine medizinische Schrift. »Sie schläft noch«, flüsterte er, »lass sie schlafen.«
Charles trat an ihr Bett. Sie lag noch genauso da wie letzte Nacht. Die Augen waren offen. Er berührte ihre Hand. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Die Hand war eiskalt. Ohne zu zögern, fühlte er den Puls an ihrer Halsschlagader, wie er es an der Universität Leiden gelernt hatte. Sie hatte keinen Puls mehr. Sie war tot. Er wünschte, sie wäre früher gestorben. Er empfand keine Trauer. Er hatte sie nie gemocht, und sie hatte seine Träume zerstört. Man kann Scheunen abbrennen und Katzen ersäufen, aber man sollte keine Träume zerstören, dachte er und ging zu seinem Vater hinüber.
»Sie schläft nur«, sagte Jean-Baptiste und legte das Buch beiseite. Es trug den Titel Nostalgia und war von einem Arztnamens Nicolai fünf Jahre zuvor publiziert worden. Charles setzte sich auf die Bettkante und starrte auf seine Füsse. »Vater«, sagte er, »Grossmutter ist tot.«
Jean-Baptiste war über den Tod seiner übermächtigen Mutter sehr betrübt. Zum Glück hatte sich die Küchenmagd ihre Kochkünste angeeignet.
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