Der Henker von Paris
stürmten. Als die Polizei Verstärkung erhielt und Schusswaffen einsetzte, blieben dreihundert Tote im Garten der Villa zurück. Ein hoher Verlust. Doch die Menschen wurden sich ihrer Macht bewusst. Wenn sie zusammen marschierten, konnte sie keine Armee aufhalten. Ein Funke genügte nun, und sie marschierten.
Am 14. Juli 1789 lud Charles Henri ein, gemeinsam das Palais Royal zu besuchen. Marie-Anne war einige Tage zuvor zu ihrer Schwester geritten, wo sie oft längere Zeit blieb. Nicht einmal am zweiundzwanzigsten Geburtstag ihrer Söhne war sie zugegen gewesen. Henri war mittlerweile ein stattlicher Mann geworden, der seinen Vater an Körperlänge übertraf. Ein richtiger Sanson eben. Die Frauen drehten sich kichernd nach ihm um, wie sie es früher bei Charles getan hatten. Dass er der Sohn des Henkers war und baldMonsieur de Paris sein würde, erzählte er jedem, der es hören wollte. Er strotzte vor Selbstbewusstsein. Das Palais Royal lag nur einen Katzensprung vom Markt Les Halles entfernt, wo Tausende von Mehlsäcken an den Hauswänden entlang gestapelt waren und vom Kot der Nachttöpfe bekleckert wurden, die die Anwohner aus den Fenstern kippten. So verfaulte hier das Mehl in den Säcken, während andernorts die Menschen verhungerten.
Das Palais Royal hatte dem Herzog von Orléans gehört, der nach dem Tod des Sonnenkönigs 1715 vorübergehend die Regentschaft übernommen und Frankreich mit einem unkontrollierten Papiergeldexperiment in den Bankrott getrieben hatte. Wie der Sonnenkönig hatte auch er die Frauen, den Wein und das Spiel geliebt und einen verschwenderischen und dekadenten Lebensstil gepflegt. Das Palais hatte er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, es galt seitdem als grösster Vergnügungspark Europas. Für ein paar Sou konnte man die angeblich fettleibigste Frau der Welt oder fremdländische Männer mit Riesenpenissen bestaunen, hinter einem Vorhang pornographische Zeichnungen anschauen, Spottlieder hören, Theateraufführungen beiwohnen, einen Blick in eine Laterna magica werfen oder das Wachsfigurenkabinett des Berner Arztes und Modellierers Philippe Curtius bewundern, der sich auf Einladung des Prinzen von Conti in Paris niedergelassen hatte. Curtius hatte seine angebliche Nichte Marie Grosholtz aus der Schweiz nachziehen lassen und ihr das Handwerk beigebracht. Es blieb stets ein Geheimnis, ob das Mädchen Marie seine Geliebte, seine uneheliche Tochter oder tatsächlich seine Nichte war. Im Palais Royal gab es keine Hierarchien.Lumpensammler, Prostituierte, reiche Bürgersfrauen und Adlige verkehrten hier. Kein Polizist durfte das Anwesen betreten, was ihm zu enormer Popularität verhalf. Nirgends in Paris gab es einen Ort, wo derart zahlreich illegale Schmähschriften gegen den König verkauft wurden. Und nirgends erfuhr man so rasch, was sich in Paris und Versailles abspielte.
An diesem Tag wollte Charles mit Henri seine Nachfolge diskutieren. Er war bereit, sein Amt abzugeben und sich fortan ausschliesslich der Heilkunst zu widmen. Er wollte diesem Gespräch einen feierlichen Rahmen verleihen. So setzten sie sich in eines der zahlreichen Cafés. Es war ungewöhnlich laut, und Charles fragte sich, ob dies der richtige Ort sei. Am Nebentisch begann sich plötzlich ein Mann zu echauffieren. Er sagte, der aus der Schweiz stammende Finanzminister Jacques Necker sei von König Louis XVI fristlos entlassen worden. Und als hätten sich plötzlich alle Besucher miteinander abgesprochen, skandierten immer mehr Menschen den Namen Necker. Sie wollten ihn zurück, hatte er doch aus seinem Privatvermögen für zwei Millionen Livre Brot gekauft und kostenlos an die hungernde Bevölkerung verteilt. Nicht einmal die Kirche hätte so etwas getan.
»Necker hat sich durch seine Grosszügigkeit am Hof sehr unbeliebt gemacht«, sagte Charles zu Henri, »er bringt Teile des Adels und die Kirchenfürsten in Erklärungsnot. Wenn einer allein für zwei Millionen Livre Brot verschenken kann, wieso können es nicht auch Adel und Kirche?«
Jemand schrie, der König habe die Entlassung Neckers absichtlich auf einen Sonntag gelegt, weil dann die Nationalversammlung nicht tage.
»Das endet böse«, sagte Charles, »ohne Necker geht Frankreich schon wieder bankrott, und damit werden die französischen Staatsanleihen wertlos. Und so mancher Adlige verliert sein ganzes Vermögen.« Er erhob sich. »Komm, Henri, lass uns woanders hingehen.« Sie wollten den Park verlassen, doch Hunderte von Menschen standen
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