Der Henker von Paris
einer Milliarde Livre auf und erwog, die Steuern abermals zu erhöhen, allerdings nur jene der Bauern, Handwerker und Tagelöhner. Klerus und Adel bezahlten kaum Steuern. Die Ärmsten finanzierten den Lebensunterhalt der Reichsten. Die Lage schien ausweglos, bis der Ruf laut wurde, nach über hundertsiebzig Jahren wieder die Generalstände einzuberufen, weil nur die Vertretung der gesamten Nation, also Adel, Klerus und Bürger, über Steuererhöhungen befinden könne.
Die aufgebrachten Menschen in den Strassen mochten Angst und Schrecken verbreiten, wenn sie »Tod den Reichen« skandierten und die Paläste stürmten, aber es war der Adel, der die Reformen vorantrieb, denn die Adligen wussten: Würden sie nicht ein wenig nachgeben, würden sie alles verlieren. Also schlossen sie sich gemeinsam mit dem zögerlichen Klerus den Bürgerlichen an, hoben die drei Stände auf und erklärten sich zur einzigen Vertretung der Nation, zur Nationalversammlung.
Charles ging wie gewohnt seiner Arbeit nach. Gehorsam hängte und köpfte er die zum Tode Verurteilten, brandmarkte Diebe für kleinere Vergehen und erfüllte alle übrigen Pflichten, die man ihm auferlegte, zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten. Den Applaus der Menge hörte er längst nicht mehr. Wieso sollte er stolz sein, wenn er einen ausgemergelten Kerl brandmarkte, der ein Stück verschimmeltes Brot gestohlen hatte?
Seit dem Umzug ins neue Haus hatte Charles wieder begonnen, an Dan-Mali zu denken. Seine Sehnsucht erwachte erneut. Er fragte sich oft, wie sie jetzt wohl aussah und wie ihr Leben in der Heimat war. In seiner Erinnerung hatte er sie glorifiziert, obwohl er nur wenig mit ihr gesprochen hatte. Plötzlich war er vom Gedanken besessen, sie wiederzusehen.
Als er sich ein paar Tage später dem Jesuitenkloster näherte, hörte er schon von weitem Geschrei. Beissender Rauch kam ihm entgegen. Er sah, wie eine Gruppe zerlumpter Menschen das Kloster mit Steinen und brennenden Strohballen bewarf. Die aufgebrachte Menge beschimpftedie Geistlichen und forderte, dass sie ihre Vorräte herausrückten. Als am anderen Ende der Strasse berittene Polizei auftauchte, flohen die Angreifer. Ein erboster Pater stürmte aus dem Haus und hielt das Pferd eines Polizisten am Zügel fest. »Die Krone hat uns und unser Eigentum zu schützen!« schrie er.
»Wieso? Zahlt ihr etwa Steuern?« Der Berittene lachte und riss sein Pferd zur Seite.
Charles rief dem Pater zu: »Wo sind die Mädchen aus Siam?« Der Pater drehte sich verdutzt um. Als Charles auf ihn zustürmte, hob er abwehrend die Hände und rannte davon. Charles rannte ihm nach und packte ihn an der Kutte. »Wo ist Dan-Mali?«, schrie er. Der Pater schlug mit beiden Armen aus. »Sie lebt schon lange nicht mehr hier.« Konsterniert liess Charles von ihm ab. Der Pater nahm die letzten Stufen und verschwand dann hinter den Klostermauern. Charles realisierte, dass es fast drei Jahrzehnte her war, seit er Dan-Mali zum letzten Mal gesehen hatte. Er fragte sich ernsthaft, ob er denn komplett verrückt geworden war.
Wie benommen ging Charles nach Hause und setzte sich neben Gabriel ans Klavier. Doch keine Melodie konnte seinen Ärger mindern. Schliesslich zog er sich in die Pharmacie zurück und nahm das Tagebuch hervor. Er schrieb nicht über Dan-Mali. Das schien ihm zu schwierig nach all den Jahren. Er schrieb über die Aufstände, die nach und nach das Ausmass einer Revolution annahmen. Das Volk hatte die Reichen zum Feind erklärt. »Wer nicht gibt, dem wird genommen«, schrieb Charles, »aber jetzt bestiehlt jeder jeden.«
Die Übergriffe auf Klöster und Reiche nahmen von Tag zu Tag zu. Zogen am Morgen hundert Menschen durch dieStrassen, waren es am Abend bereits Hunderte, die »Tod den Reichen« skandierten. In diesen Tagen traf es merkwürdigerweise den Tapetenfabrikanten Jean-Baptiste Réveillon. Merkwürdigerweise deshalb, weil er, selbst einmal Arbeiter, seinen Angestellten Sozialleistungen bezahlte, was kein anderer Unternehmer in Paris tat. Einige Dutzend Gardisten verteidigten sein Haus, also nahmen sich die Aufständischen das nächste Stadthaus vor, zerstörten das ganze Mobiliar und verbrannten es auf der Strasse. Erstaunlich, dass keiner auf die Idee kam, die Möbel an sich zu nehmen und zu veräussern. Nein, hier herrschte blinde Zerstörungswut, blanker Hass. Wer am lautesten schrie, dem folgte die Menge. Eine Woche später waren es bereits zehntausend Demonstranten, die erneut Réveillons Villa
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