Der Henker von Paris
ihnen plötzlich im Wege und verharrten vor dem Wachsfigurenkabinett. Auch dort skandierten sie »Necker« und forderten die Wachsbüste des Finanzministers, damit man sie im Triumphzug durch die Strassen von Paris tragen konnte. Eine zierliche junge Frau erschien im Eingang. In der Hand hielt sie Neckers Kopf in Wachs. Sie händigte ihn aus. Jetzt wollte die Menge aber noch den Kopf des Herzogs von Orléans. Mit schneidender Stimme schrie die junge Frau, dass dies nicht möglich sei, weil der Kopf untrennbar mit dem Rumpf verbunden sei. Die Menge akzeptierte überraschend die Antwort und zog weiter. Zurück blieb eine resolute, erst siebzehn Jahre junge Frau, Marie Grosholtz. Hinter ihr torkelte ein Mann ins Freie. Es war der Ingenieur François Tussaud. »Mach, dass du wieder ins Haus kommst«, herrschte sie ihn an. Doch er hatte Probleme mit der Balance und sank auf die Knie. Er wollte sich an ihrem Arm festhalten, aber Marie wich ihm aus und ging ins Museum zurück. »Wie soll ich dir bloss einen Heiratsantrag machen?«, jammerte Tussaud. »Willst du denn nicht Madame Tussaud werden?«
Draussen überboten sich die wildesten Gerüchte. Auf den Champs-Elysées hatten sich Tausende versammelt und feierten den Anbruch einer neuen Zeit. Fast hundert Kanoniere schlossen sich ihnen an. Sie waren aus dem Hôtel desInvalides desertiert. Niemand schritt ein. Die Stadt schien führerlos dem Chaos überlassen.
Da stieg Camille Desmoulins, ein junger Anwalt von neunundzwanzig Jahren, auf einen Tisch und hielt eine feurige Rede. Desmoulins galt wie auch sein Cousin Antoine Fouquier de Tinville allgemein als Versager. Alles, was er bisher angefasst hatte, war schiefgegangen. »Bürger«, schrie er, »ihr wisst, dass die Nation gefordert hat, Necker solle bleiben. Jetzt ist er entlassen, wie ein Hund davongejagt. Kann man euch noch unverschämter herausfordern?« Bevor seine Hetzrede im Tumult der Zuhörer unterging, schrie er noch: »Zu den Waffen! Zu den Waffen!«
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der verwegene Ruf durch das Labyrinth von engen Gassen und stinkenden Kloaken, die von Vieh, Karren und Kutschen von Adligen verstopft wurden. Bettler trugen die Neuigkeiten in das nächste Quartier, wo sie von Krämern aufgeschnappt und an die Kundschaft weitergegeben wurden. Wenig später brannten bereits vierzig der vierundfünfzig Zolltore. Eine nicht mehr kontrollierbare Masse stahl Zollware und fackelte die Steuerbescheinigungen und -register ab, die in den Amtsstuben aufbewahrt wurden. Auch die Mönche von Saint-Lazare und anderen Klöstern erhielten ungebetenen Besuch. Ihre Vorratskammern quollen über vor Weizen, Wein- und Butterfässern und Käse. Die Klosterbibliothek wurde geräumt, die Bücher auf der Strasse aufgetürmt und verbrannt. Schliesslich fackelte man gleich den ganzen Saal ab. Bei Anbruch der Dämmerung nahm der Aufstand immer gewalttätigere Formen an. Von Fackeln eskortiert, wälzte sich die aufgebrachte Menge wie ein glühenderLavastrom von Bäckerei zu Bäckerei, von Waffenschmiede zu Waffenschmiede und stahl Brot, Musketen, Pistolen, Piken und Degen. Die eine Hälfte von Paris war daran, die andere auszuplündern. Ein neues Gerücht verbreitete sich: Königliche Truppen seien unterwegs. Trommler zogen durch die Strassen und forderten die Menschen auf, sich in einer Bürgerwehr registrieren zu lassen. Als Erkennungszeichen sollten sie alle eine blaurote Kokarde tragen, die Farben von Paris. Die Sturmglocken läuteten.
Charles und Henri folgten den zornigen Menschen, die sich nun durch die Rue Saint-Honoré zwängten. In der Nähe der Place Vendôme kam ihnen das Königlich-deutsche Regiment des Prinzen von Lambesc entgegen. Sofort stürzte sich die Menge auf die Soldaten, während desertierte Gardisten dem Volk zu Hilfe eilten. Es fielen Schüsse, doch sie schüchterten die Menge nicht ein. Im Gegenteil, sie wurde dadurch noch mehr in Rage versetzt. Charles und Henri folgten den Aufständischen bis zum Hôtel des Invalides. Dort wollten sie Waffen erbeuten. Sie zerschlugen das Tor. Die Wachen leisteten keinen Widerstand. Wie Lemminge stürmten sie in die unterirdischen Waffenkammern, ohne zu bedenken, dass sie kaum wieder zurückkonnten, weil von der Strasse her weitere Menschen hereindrängten. Die Plünderer gerieten in Panik. Bajonette wurden gegen die eigenen Leute eingesetzt, um sich den Weg nach oben frei zu machen. Sie stachen auf alles ein, was ihnen auf den engen Wendeltreppen entgegenkam.
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