Der Henker von Paris
angelangt. Du wirst in der Zwischenzeit ein paar Nächte im Gefängnis Saint-Lazare verbringen. Vielleicht fällt dir dann noch etwas ein, das du mir beichten möchtest. Es gibt in den unterirdischen Verliesen so viele Ratten, dass du nachts eh nicht schlafen kannst. Also denk nach.«
»Worüber?«, fragte Charles, ohne sich seine Wut anmerken zu lassen.
»Uns interessieren alle konterrevolutionären Umtriebe. Kennst du Royalisten? Bestimmt. Nenn mir ihre Namen!«
»Du weisst genau …«
»Du? Mein Amt verlangt ein Sie, oder haben wir etwa zusammen die Schulbank gedrückt?«
»Sie wissen genau, dass ein Henker keine Freunde hat. Er teilt sein karges Mahl mit Hunden und Pferden. Es ist nicht erstrebenswert, sich in der Gesellschaft des Henkers zu befinden.«
»Mag sein«, entgegnete Fouquier, »aber du bist nicht einfach der Henker, du bist Monsieur de Paris, und viele Menschen halten sehr viel von deinen Heilkünsten. Übrigens, ich habe manchmal so ein Ziehen in der linken Brust. Wie kurze Nadelstiche. Das Herz?« Fouquiers kühler Ton wich echter Besorgnis.
»Nervosität, absolut harmlos.«
»Nun gut«, Fouquier atmete befreit aus, »ich bin sicher, in Saint-Lazare werden dir Namen einfallen.« Er griff nach einem Bündel Assignaten, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Das Papiergeld der Französischen Revolution.« Er fächerte sich damit Luft zu. »Nur schade, dass es Fälschungen sind. Und wo wurden diese Fälschungen gedruckt?« Er grinste. Jetzt wurde Charles tatsächlich blass. »Mag sein, dass deine Untermieter Revolutionslieder gedruckt haben. Aber nicht nur. Das war eine Tarnung.« Fouquier lachte auf. »Siehst du, Charles, ich habe dich immer gewarnt. Du warst der Musterschüler in Rouen. Aber ich wusste, eines Tages sehen wir uns wieder, und du wirst unter Schmerzen begreifen, dass einer, der aus der Gosse stammt, immer nach Scheisse riecht und dass einer, der adliges Blut in den Adern hat, immer überlegen ist. Es ist mir eine besondere Genugtuung, dich in den Kerker zu werfen.«
»Was habe ich dir angetan, Antoine?«
»Antoine? Schon wieder? Ich bin Fouquier, der oberste Ankläger der Republik. Ich klage an, und du vollstreckst die Urteile. Du bist der Metzger.«
Saint-Lazare: In diesem ehemaligen Lepra-Krankenhaus wurden Menschen inhaftiert, gefoltert und ohne Gerichtsurteil getötet. Es gab keine Einzelzellen. Zu Hunderten zwängten sich die Gefangenen in der Kleidung, die sie bei ihrer Verhaftung getragen hatten, durch die endlosen, finsteren unterirdischen Korridore des Gefängnisses. Trotz der misslichen Lage und der düsteren Perspektive gab es noch zahlreiche Insassen, die sich beim Kartenspiel die Zeit vertrieben. Einige sangen, andere versuchten das andereGeschlecht zu verführen. Vor allem die jungen Frauen hielten verzweifelt Ausschau nach einem Mann, der sie schwängerte. Eine Schwangerschaft rettete sie vor dem sicheren Tod.
Nach einigen Tagen hörte Charles seinen Namen rufen. Er ging zum Gitter und suchte zwischen den Stäben nach einem bekannten Gesicht. Plötzlich stand Marie-Anne vor ihm. Sie hatte ihm eine Wurst, einen Laib Brot und einen Krug Bier mitgebracht.
»Wann lassen sie dich frei?«, fragte sie.
»Ich weiss es nicht«, antwortete Charles und nahm die Nahrung, die sie ihm zwischen den Gitterstäben hindurchschob.
»Ich habe die Wurst so gemacht, wie sie meine Mutter immer gemacht hat.«
»Ich habe ihre Wurst immer verabscheut«, sagte Charles leise.
»Das hast du mir nie gesagt.«
»Du wolltest es nicht hören, aber ich bin dir sehr dankbar, dass du mir etwas zu essen bringst. Ich habe nicht damit gerechnet.«
»Machst du mir etwa Vorwürfe?«
»Ich mache dir seit Jahren keine Vorwürfe mehr, Marie-Anne. Wir sehen uns ja kaum noch.«
»Was liegt gegen dich vor?«
»Nichts.«
»Wieso haben sie dich dann verhaftet?«
»Ich weiss es nicht.«
»Gibt es eine Anklageschrift?«
»Nein, das ist wohl die Errungenschaft der Revolution. Wir brauchen keine Anklageschriften mehr. Hier untenschmoren Menschen, die zum Teil von Kindern verleumdet wurden.«
»Desmorets soll dir einen Anwalt besorgen.«
»Ich habe kein Anrecht auf einen Anwalt, Marie-Anne. Mittlerweile vegetieren sogar die Väter der Revolution hier unten, die Verfasser der Menschenrechte. Das Ganze ist aus dem Ruder gelaufen. Der Druck der Strasse ist so gross, dass jeder Gemässigte zu den Radikalen überlaufen muss, um zu überleben. Die Nationalversammlung folgt ihnen Tag für Tag, um nicht in
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