Der Herodes-Killer
glaube Ihnen. Ich glaube, dass die Geschichte oberflächlich gesehen stimmt. Mir ist nur nicht klar, wie Sebastian Flint das überleben konnte.»
Sie zog eine Placebo-Zigarette heraus und zog heftig daran. Es entstand eine längere Pause.
«Er hat also den Lynch-Mob überlebt. Was ist als Nächstes passiert?», ermutigte Rosen sie zum Weitererzählen.
«Er wurde drei Tage darauf von einem Safari-Bus gefunden und ins nächste Krankenhaus gebracht. Nachdem man seine Identität festgestellt hatte, hat ihn ein Vertreter der dortigen Diözese abgeholt. Ich muss mal verschwinden», sagte Alice und stand auf. «Bleiben Sie hier.» Sie ging zur Toilette.
Von einer kenianischen Staubpiste in ein Kloster in Kent? Das war Stoff für Legenden, und Rosen hoffte, dass es nicht stimmte. Eine Kette schlimmer Gedanken lief in ihm ab. Falls zutraf, dass Father Sebastian Flint sich genau wie die anderen von ihm geheilten Besessenen verhalten hatte, machte ihn das zu einem Massenmörder. In diesem Fall sollte er an Kenia ausgeliefert werden, und die kenianische Polizei musste einige alte Fälle noch einmal öffnen.
Rosen klopfte die Einzelheiten von Alices Geschichte auf ihre Stichhaltigkeit ab. Wie konnte ein Mann an der Schwelle zum Tod die Hitze des afrikanischen Tages und die Kälte der tropischen Nacht ohne Wasser oder Obdach überleben?
Der Wind hämmerte gegen die inzwischen dunklen Fenster. Alice kam zurück und setzte sich.
«Falls herauskommt, dass ich Ihnen das alles erzählt habe, könnte ich meine Stelle verlieren», sagte sie.
«Man wird es nie erfahren.»
«Jedenfalls lebt er jetzt ja ganz abgelegen im St Mark’s, wo nichts passieren kann.»
«Ich weiß», meinte Rosen, «ich habe ihn besucht.»
«Wirklich?» Sie klang verblüfft.
«Als ich dort war, habe ich ihm meinen Laptop gezeigt, weil sie selbst keine Computer haben. Ich habe seinen Namen gegoogelt, Father Sebastian Flint. Es war nur sehr wenig über ihn zu finden. Es gab einen kurzen, mehrfach kopierten Bericht, dass er bei einem Verkehrsunfall in Kenia gestorben sei, aber die Geschichte, die Sie mir gerade erzählt haben, wurde absolut nirgends erwähnt.»
«Ich habe Ihnen nur das berichtet, was ich damals, 1990, darüber gehört habe.»
«Ich zweifle Ihre Aussage nicht an», meinte Rosen. «Es ist einfach nur … Wie kommt es, dass man ihn als Verkehrstoten dargestellt hat? Das Internet lebt doch von solchen Ereignissen, wie Sie sie gerade berichtet haben: Teufel, Besessenheit, Mord, Lynch-Mobs, ein wundersames Überleben … Und doch ist im Netz nichts zu finden.»
«Die Geschichte hat sich in den Kindertagen des Internets ereignet, und zwar weit weg von hier.» Sie hielt inne und wartete darauf, dass Rosen etwas sagte. Da er selbst auf halbgare Spekulationen über Polizeikorruption und Wahrheitsmanipulation immer allergisch reagierte, schwieg er über seine Schlussfolgerungen zum Verhalten der römisch-katholischen Kirche.
«Was ist Ihrer Meinung nach geschehen, David?», fragte Alice.
«Nach allem, was Sie berichtet haben …», Rosen sprach so, als könne er kaum glauben, dass die Worte aus seinem Mund kamen, «… hat die katholische Kirche Father Sebastian so schnell wie möglich aus Kenia herausgeschafft.»
Alice nickte. «Und?»
«Und in den frühen Tagen des World Wide Web wurden dort Geschichten über seinen Tod bei einem Verkehrsunfall in Umlauf gebracht, um der Version, die Sie mir gerade erzählt haben, den Boden zu entziehen.»
«Das fasst es ziemlich gut zusammen. Wir haben Zehntausende Fälle von Kindesmissbrauch vertuscht, warum dann nicht auch das hier?»
Warum nicht eine Handvoll toter Afrikaner? , dachte Rosen. Umso mehr, als Flint vom Mob im Schnellverfahren bestraft worden und er zudem mit dem Segen des Papstes nach Kenia gegangen war.
«Gibt es sonst noch etwas?», fragte er.
Alice schüttelte den Kopf. «Nein. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen.»
Rosen dankte ihr aufrichtig und versicherte ihr, dass er sie als Informationsquelle schützen würde.
Er stand auf. «Und das war wirklich alles?»
«Ja. Sie könnten mir noch ein großes Glas Rotwein bestellen, bevor Sie gehen. Werden Sie Father Flint wieder aufsuchen?»
«Sehr wahrscheinlich.»
«Dann seien Sie sehr, sehr vorsichtig. Sie wissen nicht, womit Sie es zu tun haben. Das weiß keiner.»
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Die Idee für den Patientenlifter stammte von einem medizinischen Dokumentarfilm im Fernsehen, den der Herodes-Killer aufgenommen und sich
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