Der Herodes-Killer
zurechtträumte, angetrieben von der Freude über seinen letzten bösen Streich und das menschliche Leid, das er verursacht hatte.
Er schob das Gedicht so weit wie möglich von sich und versuchte, die Unruhe im Griff zu behalten, die ihm kalte Schauer über den Rücken jagte.
Er rieb sich die Augen, dankbar dafür, dass er sich noch ein anderes Dokument anschauen konnte. Er begann, die Transkription von Harrisons Interview mit Jane Rice zu lesen. Es war einzeilig gedruckt, und Teile davon waren ordentlich mit einem orangefarbenen Marker unterstrichen. Er blätterte zum Bericht über Paul Dwyers gescheitertes Medizinstudium vor. Rosens Puls ging schneller: Paul Dwyer besaß medizinische Kenntnisse. Das war genug, mehr als genug.
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48
Es gab keinen günstigen Zeitpunkt für morgendliche Übelkeit. Die erste Unterrichtsstunde mit der 10M an einem kalten, nassen Frühlingsmorgen war der Beweis dafür. Die Schüler hatten kollektiv die Köpfe über ihre Ausgaben des prüfungsrelevanten Lehrbuchs Glauben und Handeln gebeugt, und Sarah nahm die DVD heraus, die dem Buch beigelegt war. Dabei drehte sich ihr der Magen um. Sie umklammerte die Tischkante und kämpfte gegen den Brechreiz an, aber sie stand auf der Verliererseite.
Sie riss die Tür des Klassenzimmers auf.
«Mrs. Rosen?», rief ein Schüler ihr nach.
Sie rannte zur Schülertoilette am Ende des Korridors, mit zusammengebissenen Zähnen und angehaltenem Atem, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Sie schaffte es zur vordersten Kabine, bevor sie sich heftig erbrach.
Sarah spülte sich den Mund aus und klatschte sich Wasser ins Gesicht, das von der Anstrengung rot war und erschöpft aussah. In einem Spiegel, der normalerweise Bilder von Mädchen am Übergang zum Frausein zurückwarf, erblickte sie eine Frau in der Mitte ihres Lebens, aber sie lächelte und sagte zu ihrem Gegenüber: «Du bist also doch nicht zu alt, ein Kind zu bekommen.» Es war ihr gleichgültig, ob die 10M das Klassenzimmer auf den Kopf stellte. Sie streichelte ihren Bauch und lachte laut. In ihrem Kopf pulsierte es. Sie wusste nicht, ob sie sich nicht gleich wieder erbrechen musste, aber sie sah in den Spiegel und lächelte.
Die Erinnerung an Hannah stieg in ihr auf, eine Erinnerung, die ihr teuer war und die sie doch jeden Tag von neuem abwehren musste. Hannah, sechs Wochen alt, wie sie um vier Uhr früh an ihrer Brust lag. Der Mond leuchtete in das ansonsten dunkle Schlafzimmer und fing sich wie zwei Lichtpunkte in den Augen ihres Babys. Es war eine schwierige Schwangerschaft und Geburt gewesen, aber Hannah war ein großartiges Baby und wuchs zu einem intelligenten und liebevollen Kleinkind heran. Und dann war sie gestorben. Zwei Splitter Mondlicht, verschwunden.
Sarah stellte sich vor, wie sich ihre Gebärmutter über ihrem Schambein mit Leben füllte. Sie streichelte ihren Bauch mit der flachen Hand, als läse sie so die Landschaft eines Lebens, das darauf wartete, gelebt zu werden.
Dann hörte sie sie. Es war das ferne Summen eines schrecklichen Getöses. Selbst in einem so privaten Augenblick hatte der Wille der 10M Vorrang.
Sie eilte über den Flur zur offenen Tür des von ihr verlassenen Klassenzimmers zurück, wo eine Aufsichtsschülerin aus der Oberstufe versuchte, der wachsenden Anarchie im Raum Herr zu werden.
Lehrer aus den benachbarten Klassenzimmern tauchten in ihren Türen auf.
«Es ist in Ordnung, alles in Ordnung», erklärte Sarah im Vorbeieilen und nahm ihren Platz wieder ein.
Mit künstlichem kaltem Zorn starrte sie die Anstifter an, eine Fähigkeit, die sie sich von einem knallharten Sergeant Major abgeschaut hatte, unter dem sie in ihrer Zeit als Reservistin der Territorial Army gedient hatte. Diese Kunst hatte sie im Laufe vieler Schuljahre vervollkommnet. Dann wandte sie sich den Schafen zu, manche bedachte sie mit bedauernden und manche mit verärgerten Blicken. Stille trat ein. Mit einer Stimme, die kaum lauter war als ein Flüstern, sagte sie: «Könntest du bitte die Tür zumachen, Jenny?»
Die gesamte Klasse sah sie an, woran sie ja gewöhnt war, aber plötzlich fühlte es sich merkwürdig an.
Sie musste nachdenken. Wo waren sie gerade im Stoff?
«Schließt die Bücher», sagte sie.
«Mrs. Rosen, können wir die DVD schauen?»
«Ja … Jenny, den Overheadprojektor, bitte.» Sie steckte die DVD in den Laptop und hörte das Surren des Overheadprojektors, als das Smartboard zum Leben erwachte. «Wo», fragte Sarah die 10M, «ist
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