Der Herr Der Drachen: Roman
Abend zum Arbeiten erwartet und dürfte zweifellos wütend sein, weil sie nicht erschienen war. Ihre Hand pochte dumpf, und die Haut unter dem Verband juckte. Sie versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen und dem dunklen Pfad weiter nach unten zu folgen. Von dem gerade Erlebten war sie wie betäubt und hielt die Augen auf ihre Füße geheftet. Sie sah zu, wie sie einen Schritt nach dem anderen machte, wie in einem Traum, bis sie plötzlich stehen blieb. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse.
Sie fühlte ihn, noch ehe sie ihn sah. Es war eine unmittelbare Gewissheit, eine Ausdehnung ihrer Selbst, die sie nie zuvor verspürt
hatte, aber instinktiv erkannte, sodass sie suchend in die dunklen Schatten der Bäume starrte.
»Komm heraus. Ich weiß, dass du da bist.«
Einen Moment lang sagte er nichts, dann kam seine zögernde Stimme aus der Dunkelheit. »Du kannst es auch fühlen?«
Sie antwortete nicht. Ihr Inneres fühlte sich wie ein gespanntes Drahtseil an. Es war der Mann von vorhin - Tallis. Sie war sich seiner jetzt sehr bewusst, und das Gefühl füllte sie ganz und gar aus, zugleich fremd und doch vertraut.
»Komm heraus«, wiederholte sie, und sie hörte das Zittern in ihrer Stimme. Da trat er auf den Pfad, und das schwache Sternenlicht brach sich auf den kleinen Silberbändern am Ende seiner Zöpfe.
»Shaan.«
Ihr Herz machte einen Satz: »Woher kennst du meinen Namen?«
»Dieser Septenführer Balkis hat ihn mir verraten. Ich wollte dich sehen, ich dachte …« Er streckte die Hände aus. Er war größer als sie, breiter in den Schultern, und er trug sein Haar zwar lang, aber es war schwarz und dick wie ihr eigenes, und seine dunklen, beinahe lilafarbenen Augen starrten sie im schwachen Licht an.
»Was willst du?« Aber sie wusste es bereits und hatte nur gefragt, um das Unvermeidliche noch ein wenig aufzuschieben in dem Versuch zu leugnen, was er behaupten würde.
»Ich bin dein Bruder, Shaan.«
»Ich habe keinen Bruder. Ich habe gar keine Familie, alle Mitglieder sind längst tot.«
Er stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du es spüren kannst. Ich kann es in dir fühlen. Du bist meine Schwester. Sieh uns doch an! Du kannst nicht abstreiten, wie ähnlich wir uns sehen.«
Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. »Du bist ein Clansmann, nicht wahr?«, fragte sie. »Aus der Wüste. Wie kann …?«
»Ich weiß es nicht.« Er trat einen Schritt auf sie zu.
»Halt!« Sie hob abwehrend die Hände.
»Shaan.« Er blieb stehen, aber sein Gesichtsausdruck war flehend. »Meine Mutter - unsere Mutter - hat zwei Kinder zur Welt gebracht, uns beide nämlich. Aber du warst klein und krank, und es ist Sitte in unserem Clan, dass man jene an Kaa zurückgibt, die er bereits als seine gekennzeichnet hat.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht.«
»Du wurdest im Sand zurückgelassen, um zu sterben.« Sein Mund verzog sich. »Der Anführer meines Clans hat dich ausgesetzt, aber meine Mutter rettete dich. Sie schickte jemanden, der dich in Sicherheit brachte.«
»Das ist nicht möglich«, wiederholte Shaan. »Meine Mutter stammte aus Goreth in der Nähe der Pleth-Kette. Dort wurde ich auch geboren.«
»Tatsächlich?«, fragte Tallis. »Kann es nicht möglich sein, dass du zu ihr gebracht wurdest? Ein Kind, das einer Frau überlassen wurde, die kein eigenes bekommen konnte? Ein Geschenk?«
Shaan schwieg, aber tief in ihrem Innern begann sich Zweifel zu regen und aufzusteigen wie eine Feder, die von Rauch getragen wird. Ihre Mutter hatte keine weiteren Kinder gehabt, trotz der vielen Männer, mit denen sie zusammen gewesen war. Shaan hatte immer geglaubt, dass die Droge Crist dafür verantwortlich gewesen war.
»Ich habe diese Berge gesehen, Shaan«, beharrte er. »Sie sind in der Nähe der Grenze zu den Clanlanden.« Er starrte sie an, aber noch immer bekam er keine Antwort.
»Wer war denn dein Vater?«, fragte er.
Shaan zögerte, und ihre Finger wurden plötzlich kalt. »Er ist tot.« Sie schlang die Arme um ihren Körper, und Tallis seufzte, ehe er einen Schritt näher kam.
»Vielleicht, aber unsere Mutter ist es nicht«, sagte er lächelnd. »Und du bist genauso störrisch wie sie. Ihr Name ist Mailun, und sie stammt vom Eisvolk ab, den Ichindar. Sie würde vor Freude weinen, wenn sie wüsste, dass du am Leben bist.«
Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit, und Shaan spürte
eine Gefühlswoge, die sie zu überrollen drohte, sodass sie einen Schritt zurückwich.
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