Der Herr Der Drachen: Roman
hätte er ihn nicht so einfach ziehen lassen.«
»Warum?«
»Weil er ihr Bruder ist«, sagte Alterin. »Azoth hätte ihn für sich beansprucht. Er ist hierhergekommen, um sich zurückzuholen, was ihm gehört.«
Alterin sah Shaan an, aber sie schwieg. In Anbetracht dessen, was Azoth gesagt hatte, war sie sich da nicht so sicher. Es stimmte: Azoth wollte wieder zurückhaben, was sein war, seine Nachkommen eingeschlossen, doch vor allem wollte er, dass sie
freiwillig zu ihm kämen. Unter welchen Umständen Tallis so etwas tun sollte, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie selbst war trotz ihres Widerstandes nicht von Azoth getötet worden, weil er sie brauchte. Aber Tallis - was könnte er von ihm wollen?
Jared sah sie beide an, die Stirn gerunzelt. »Was meinst du mit ihn beanspruchen und zurückholen, was ihm gehört ?«
Shaan seufzte. »Jared! Tallis und ich sind Azoths Nachkommen«, sagte sie leise.
Er schwieg einen Moment. Seinem Gesicht war anzusehen, wie er nach und nach begriff, was sie da gerade gesagt hatte, und schließlich nickte er. »Das erklärt vieles, aber es wirft auch neue Fragen auf. Wie können die Nachkommen eines Gottes der Feuchtländer in den Clanlanden geboren sein?«
»Das ist wirklich seltsam«, sagte Alterin. »Die Führer deines Volkes hegen keinerlei Zuneigung für den Gefallenen. Vielleicht wird diese Tatsache in der Zukunft nützlich sein. Doch jetzt müssen wir erst einmal selbst alles tun, was in unseren Kräften steht. Wir dürfen nicht zulassen, dass Azoth von Tallis erfährt, so viel ist sicher. Deinem Bruder habe ich das auch schon gesagt. Er trägt eine Macht in sich, die der Gefallene nicht dulden würde. Der Semorphim, der ihn trug, wusste das. Es war das Weibchen, das ihn - gegen seinen Willen, denke ich - fortschaffte. Aber ihr müsst euch keine Sorgen um ihn machen. Die Drachen werden ihn beschützen. Er spricht ihre Sprache.« Ihr Blick wandte sich Jared zu, der gerade etwas sagen wollte; dann hob sie die Hand und klopfte ihm auf die Brust.
»Nein. Später. Du musst dich jetzt ausruhen. Shaan und ich haben viel zu besprechen und wenig Zeit.«
Jared sah zu Shaan und zog eine Augenbraue hoch. »Siehst du, womit ich mich hier herumschlagen musste?« Er lächelte die kleine, dunkelhäutige Frau an. »Immer versucht sie, mich ins Bett zu bekommen.«
Alterin wurde rot und runzelte die Stirn. »Du musst dich ausruhen, sonst wirst du nie gesund«, sagte sie, und er zwinkerte Shaan zu.
»Schon gut, schon gut.« Immer noch lag seine Hand warm auf ihrer Schulter. »Ich bin froh, dich zu sehen, kleine Sandschwester.« Als er lächelte, spürte sie, wie unerwartet Tränen aus ihren Augen strömten. Sie schenkte ihm ebenfalls ein kurzes Lächeln, blieb aber stumm, als er sie zum zweiten Mal umarmte, sich umdrehte und im Nachbarraum verschwand.
»Komm. Setz dich.« Alterin deutete auf die Matte auf dem Boden. »Darf ich mir das einmal ansehen?«, fragte sie mit einem Blick auf Shaans verletzte Hand.
Shaan nickte und setzte sich neben sie. Vorsichtig entfernte Alterin den Stoffstreifen, den Shaan aus ihrem Kleid herausgerissen und um die Wunde gewickelt hatte. Dabei bröckelte der inzwischen getrocknete Schlamm ab, den sie auf die Verbrennungen aufgetragen hatte. Darunter war ihre Haut rot, voller Blasen und schmutzig. Alterin schnalzte bei diesem Anblick mit der Zunge, schüttelte den Kopf und erhob sich. Sie ging in den Nachbarraum und kam mit zwei Körben zurück, ließ sich wieder neben Shaan auf den Boden sinken und begann, eine helle Paste auf ihrer Haut zu verteilen.
»Das wird die Wunde säubern.« Mit festem Griff stützte sie Shaan, während sie ihre gesamte Hand und den Unterarm mit der geruchlosen Paste bedeckte. Anschließend nahm sie ein kleines Stück Stoff und begann damit, vorsichtig den verwundeten Bereich abzutupfen, bis er ganz sauber war. Sie arbeitete schnell. In der Hütte war es still, nur das leise Plätschern des Regens auf den Blättern drang von draußen herein.
»Ich habe dich letzte Nacht schreien hören«, sagte Alterin, während sie zuletzt einen frischen Verband um die Wunde wickelte. »Hat er dir etwas getan?«
»Nein.« Shaan versuchte, ihre Stimme gleichmütig klingen zu lassen.
»Warum hast du dann geschrien?«
»Ich hatte schlechte Träume.«
Alterin nickte, sah sie einen Moment lang an, und begann dann, ihre Salben zusammenzupacken.
»Ich sehe in dir keine Furcht vor ihm.«
»Er widert mich an, aber er macht mir keine
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