Der Herr der Habichts - Insel
die Brandung gegen die Felsen unter ihr, so daß die Gischt aufstob, um dann donnernd in brodelnd weißem Schaum zusammenzubrechen. Der Nieselregen wehte ihr ins Gesicht und sie trat von der Felsklippe zurück. Fröstelnd rieb sie sich die Arme, hatte jedoch nicht die Absicht, ins Langhaus und zu dem Aufruhr zurückzukehren, den sie dort angerichtet hatte.
Wieder sah sie das Bild der kreischenden Sira vor sich, deren Haare und Gesicht mit tropfendem Gemüse und Bratensaft besudelt war. Ein Bild, das sie wohl nie vergessen würde. Mirana hatte sich nun eine Feindin gemacht. Doch Sira hatte sie schon vorher gehaßt.
Was würde Rorik tun?
Ein Stich durchbohrte ihre Brust. Ihre kurze Ehe, die so hoffnungsvoll begonnen hatte, war zu einem Häufchen kalter Asche verfallen.
Sie sah seinen schmerzlichen Gesichtsausdruck noch vor sich, einen Schmerz, den sie nicht verstehen konnte. Was würde er tun? Würde er sie fortschicken? Sie töten?
»Die kleine Prinzessin zetert immer noch wie eine Ziege, und Roriks Mutter versucht sie zu beruhigen. Man lacht hinter vorgehaltener Hand über sie. Kerzog läßt sich nicht davon abbringen, ihr den Bratensaft von Gesicht und Hals zu lecken.«
Mirana wandte sich lächelnd zu Entti um. »Kerzog ist ein guter Hund. Du hättest nicht kommen dürfen, Entti, obwohl ich froh bin, daß du da bist. Ich bin eine Fremde hier. Ich bin eine Außenseiterin. Niemand steht mir zur Seite.«
»Sei keine Närrin, Mirana. Du bist die Herrin der Habichtsinsel. Rorik muß dir beistehen. Er gelobte dir Treue und Schutz. Wenn es nur um Sira ginge, würden die Frauen nicht zögern, dir offen ihre Treue und Zuneigung zu zeigen. Aber sie respektieren Roriks Mutter und wollen sie nicht verletzen. Sie begreifen ihren Haß gegen dich nicht. Sie vergräbt sich in ihrem Schmerz, sie pflegt ihn und ebenso Harald. Doch du bist die Herrin, niemand sonst. Und bald fahren seine Eltern und die unselige Sira wieder fort.«
»Ich halte es jedoch für fraglich, ob ich noch Herrin bin.«
»Hat Rorik wirklich einmal Essen über dich geschüttet?«
»Ja. Als ich ihn verspottet habe, hat er mir zur Strafe den vollen Teller auf den Schoß gekippt. Das ist besser, als jemanden zu schlagen, und eigentlich wollte ich sie schlagen, Entti. Doch das Lauchgemüse, das ihr übers Gesicht tropfte — es war ein schöner Anblick.«
Entti grinste. »Ja, das war es.«
Mirana blickte auf die rauhe See hinaus, dann sagte sie leise: »Ist Herr Rorik sehr wütend?«
Entti hüllte sich enger in die zerschlissene, alte Wolldecke, die ihr als Umhang diente. Mirana wollte demnächst dafür sorgen, daß Entti einen anständigen Umhang bekam.
»Ich weiß nicht. Es ist etwas im Gange, was ich nicht verstehe, Mirana. Gurd hat ihnen zwar erzählt, daß du Einars Schwester bist, aber dieser Haß gegen dich — den begreife ich nicht. Und Herr Rorik . . .«
»Sie haben ihm seinen Schmerz und das Grauen wieder vor Augen geführt, haben ihm seine Schuld vorgehalten. Und sie unterstellen mir eine Beteiligung an Einars Untaten. Was er wohl tun wird?«
Entti seufzte. »Du glaubst doch nicht wirklich, daß er dich fortschickt? Du bist seine Frau!«
Mirana hob die Schultern. »Er steht seiner Familie sehr nah. Er hört auf sie. Vielleicht tötet er mich. Oder sein Bruder Merrik, oder Sira. Sie ist dazu imstande. Sie ist ein heißblütiges Mädchen. Sie wollte Rorik haben, und sie macht sich immer noch Hoffnungen. Deshalb wird sie dafür sorgen, daß ich gehe oder sterbe.«
Entti legte ihre Hand auf Miranas Arm: »Wir nehmen ein Boot und fliehen noch heute nacht. Jetzt gleich. Diesmal schaffen wir es.«
Mirana lächelte. »Ein Sturm zieht auf, Entti. Erinnerst du dich nicht an unser letztes Abenteuer auf stürmischer See?«
Entti trat an den Rand der Felsklippe und blickte in die brodelnde, schäumende See. Dann richtete sie den Blick nach Süden, wo die Langboote an der Mole festgemacht lagen. Selbst in der geschützten Bucht ließen die hohen Wellen die Boote wie Spielzeugschiffchen tanzen. Entti ließ sich nicht entmutigen: »Ich kann jedenfalls nicht bleiben, Mirana. Wenn ich bliebe, müßte ich mich der Männer erwehren, weil ich nicht länger die einfältige Hure spiele. Aber ich will auch keinen von ihnen umbringen.«
»Keiner wird dich anfassen. Dafür sorge ich.«
»Du sagst selbst, daß deine Stellung unsicher ist. Sie haben mich aus Respekt vor dir in Ruhe gelassen. Aber nun können wir beide nicht mehr damit rechnen, unversehrt oder
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