Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
Ringträger. Welchen Weg du selbst nehmen willst, kannst nur du entscheiden. Dazu kann ich dir keinen Rat geben. Ich bin nicht Gandalf, und obgleich ich versucht habe, seinen Platz auszufüllen, weiß ich doch nicht, welche Absicht oder Hoffnung, wenn überhaupt eine, er für diese Stunde hegte. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Entscheidung, auch wenn er jetzt hier wäre, dennoch bei dir läge. Dies ist nun mal dein Schicksal.«
Frodo antwortete nicht gleich. Dann sagte er stockend: »Ich weiß, Eile ist geboten, aber ich kann mich nicht entschließen. Es ist schwer. Lass mir noch eine Stunde Zeit, dann sag ich, was ich tun will. Lasst mich allein!«
Aragorn sah ihn freundlich mitfühlend an. »Gut, Frodo, Drogos Sohn«, sagte er, »lassen wir dir eine Stunde Zeit, und lassen wir dich allein! Wir bleiben einstweilen hier. Aber geh nicht außer Rufweite!«
Frodo blieb noch einen Augenblick mit gesenktem Kopf sitzen. Sam, der seinen Herrn mit besorgter Miene beobachtet hatte, schüttelte den Kopf und brummte: »Ist doch alles sonnenklar! Hat aber keinen Sinn, dass Sam Gamdschie jetzt seinen Senf dazu gibt.«
Dann stand Frodo auf und ging fort. Sam bemerkte, dass Boromir, während die anderen es vermieden, Frodo anzustarren, ihn nicht aus den Augen ließ, bis er hinter den Bäumen am Fuß des Amon Hen verschwunden war.
Obwohl er zuerst ziellos in dem Wäldchen herumlief, merkte Frodo bald, wie ihn die Füße zu den Berghängen hinauftrugen. Er stieß auf einen Pfad, das verwahrloste Überbleibsel einer alten Straße. An steilen Stellen waren Treppen aus behauenen Steinen, aber sie waren nun zerbröckelt, verwittert und von Baumwurzeln gespalten. Eine Weile ging er bergauf, ohne viel auf den Weg zu achten, bis er zu einer grasbewachsenen Lichtung kam. Ebereschen wuchsen an den Rändern, und in der Mitte lag ein breiter, flacher Stein. Nach Osten lag die kleine Bergwiese offen, und die Morgensonne schien herein. Frodoblieb stehen und schaute über den Fluss, der tief unter ihm lag, nach Tol Brandir hinüber. Vögel kreisten in der weiten Kluft zwischen ihm und der unbetretenen Insel. Von fern hörte er den Wasserfall, ein mächtiges Brausen, vermischt mit tiefem, pochendem Dröhnen.
Er setzte sich auf den Stein, stützte das Kinn in die Hände und blickte nach Osten; aber was er sah, kümmerte ihn wenig. Alles, was seit Bilbos Fortgang aus dem Auenland geschehen war, ging ihm durch den Kopf; und er versuchte, sich an alles zu erinnern, was Gandalf gesagt hatte, und sann darüber nach. Die Zeit verstrich, und der Entscheidung war er noch immer nicht näher gekommen.
Plötzlich erwachte er aus seinem Sinnen, mit dem eigenartigen Gefühl, dass jemand hinter ihm stand und dass unfreundliche Blicke auf ihm ruhten. Er sprang auf und fuhr herum, aber zu seiner Überraschung sah er nur Boromir, der ihn freundlich anlächelte.
»Ich war in Sorge um dich, Frodo«, sagte er nähertretend. »Wenn Aragorn Recht hat und Orks in der Nähe sind, dann darf keiner von uns allein herumlaufen, und du am allerwenigsten – so viel hängt von dir ab! Und auch mir ist das Herz schwer. Darf ich einen Moment hier bleiben und mit dir reden, wenn ich dich schon mal gefunden habe? Es würde mir gut tun. Wo so viele zusammensitzen, wird aus jedem Wort eine endlose Diskussion. Aber im Zwiegespräch könnte vielleicht etwas Gescheites herauskommen.«
»Du bist sehr freundlich«, sagte Frodo, »aber ich glaube nicht, dass ein Gespräch mir helfen kann. Denn was ich tun sollte, weiß ich; ich habe nur Angst, es zu tun, Boromir: Angst!«
Boromir stand vor ihm und schwieg. Unermüdlich brauste der Rauros. Der Wind tuschelte in den Zweigen. Frodo fröstelte.
Plötzlich setzte sich Boromir neben ihn. »Bist du sicher, dass du dich nicht unnötig quälst?«, sagte er. »Ich möchte dir helfen. Du brauchst Rat bei deiner schweren Entscheidung. Willst du ihn von mir annehmen?«
»Ich glaube, ich weiß schon, welchen Rat du geben würdest, Boromir«, sagte Frodo. »Und er schiene mir klug, wenn mein Herz mich nicht warnte.«
»Warnte? Warnte wovor?«, sagte Boromir scharf.
»Vor dem Aufschub. Vor dem Weg, welcher der leichtere zu sein scheint. Vor der Weigerung, die Last zu tragen, die mir aufgebürdet wurde. Vor … nun ja, wenn ich es denn sagen muss, vor dem Vertrauen auf die Stärke und Ehrlichkeit der Menschen.«
»Doch diese Stärke hat euch in eurem fernen Ländchen lange beschützt, obwohl ihr nichts davon wusstet.«
»Ich zweifle
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