Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
mir, Frodo«, sagte er, »du musst ausruhen vor deinem Abenteuer, wenn du es schon nicht lassen kannst.« Er legte dem Hobbit die Hand auf die Schulter. Es sollte eine freundliche Geste sein, aber Frodo spürte, wie die Hand zitterte vor unterdrückter Erregung. Er trat rasch beiseite, mit einem besorgten Blick auf diesen Menschen, der fast zweimal so groß und etliche mal so stark war wie er selbst.
»Warum bist du so unfreundlich?«, sagte Boromir. »Ich bin ein redlicher Mensch, kein Dieb oder Verräter. Ich brauche deinen Ring: So viel weißt du jetzt; aber ich gebe dir mein Wort, dass ich ihn nicht behalten will. Willst du mich meinen Plan nicht wenigstens erproben lassen? Leih mir den Ring!«
»Nein!«, rief Frodo. »Nein, der Rat hat es mir auferlegt, ihn zu tragen.«
»Durch unsere eigene Dummheit wird der Feind uns besiegen«, rief Boromir. »Ich könnte rasen! Dummkopf! Du dickschädeliger Dummkopf! Vorsätzlich dem Tod in die Arme zu laufen und unsere Sache zuschanden zu machen! Wenn irgend Sterbliche auf den Ring einen Anspruch haben, dann die Menschen von Númenor und nicht die Halblinge. Er ist nur durch einen unglücklichen Zufall an dich gekommen. Er hätte mein sein können. Er sollte mein sein. Gib ihn her!«
Frodo antwortete nicht, sondern trat zurück, bis der große flache Stein zwischen ihnen war. »Schon gut, mein Freund!«, sagte Boromir nun in sanfterem Ton. »Warum willst du ihn nicht lieber los sein? Warum dich nicht frei machen von deiner Angst und deinen Zweifeln? Wenn du willst, kannst du mir die Schuld geben. Du kannst sagen, ich sei zu stark gewesen und habe ihn dir mit Gewalt abgenommen. Denn ich bin zu stark für dich, Halbling«, rief er, und plötzlich setzte er über den Stein hinweg und ging auf Frodo los. Sein offenes und freundliches Gesicht war erschreckend verzerrt; eine Feuersbrunst wütete in seinen Augen.
Frodo wich ihm aus und brachte wieder den Stein zwischen sie beide. Er konnte nur eines tun. Zitternd zog er den Ring an der Kette heraus und streifte ihn rasch auf den Finger, als Boromir eben zum zweiten Mal auf ihn losstürmte. Der Mensch stutzte, schaute sich einen Moment verblüfft um und rannte dann hektisch umher, hier und da zwischen den Felsen und Bäumen herumtastend.
»Du elender Schwindler!« brüllte er. »Wenn ich dich zwischen die Finger kriege! Ich durchschau dich jetzt! Du willst Sauron den Ring bringen und uns alle verkaufen. Du hast nur auf die Gelegenheit gewartet, uns im Stich zu lassen. Tod und Verdammnis über dich und alle Halblinge!« Dann blieb er mit dem Fuß an einem Stein hängen und schlug lang hin, mit dem Gesicht zu Boden. Für einen Moment blieb er reglos liegen, als hätte der eigene Fluch ihn niedergestreckt. Und auf einmal begann er zu weinen.
Er stand auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und wischte die Tränen ab. »Was hab ich gesagt?«, rief er. »Was hab ich bloß getan? Frodo, Frodo! Komm zurück! Der Wahnsinn hatte mich gepackt, aber das ist vorüber. Komm zurück!«
Er bekam keine Antwort. Frodo hörte seine Rufe nicht mehr. Er war längst auf und davon, rannte blindlings den Pfad zum Berggipfel hinauf. Zitternd vor Schreck und Kummer, sah er noch immer Boromirs vor Wahnsinn verzerrte Fratze und seine glühenden Augen vor sich.
Bald war er auf dem Gipfel des Amon Hen. Er blieb stehen und schnappte nach Luft. Wie durch Nebel sah er einen großen, ebenen Kreis, mit mächtigen Steinplatten gepflastert und von einer verfallenen Brustwehr umgeben; und in der Mitte, auf vier gemeißelten Säulen, stand ein Hochsitz, zu dem eine Treppe mit vielen Stufen hinaufführte. Als Frodo auf dem uralten Sitz Platz nahm, war ihm zumute wie einem verirrten Kind, das sich auf den Thron eines Bergkönigs setzt.
Zuerst sah er nicht viel. Er schien in eine Nebelwelt eingetreten zu sein, in der nur die Schatten lebten: Er hatte den Ring aufgesteckt. Dann lichtete sich hier und da der Nebel, und er hatte Gesichte: kleine, deutliche Szenen, als ob sie vor seinen Augen auf einem Tisch lägen, und doch fern. Töne waren nicht zu hören; er sah nur helle, lebende Bilder. Die Welt schien geschrumpft und verstummt zu sein. Er befand sich auf dem Aussichtsturm auf dem Amon Hen, dem Berg des Sehens, wie ihn die Menschen von Númenor genannt hatten. Nach Osten blickte er über weite, auf keiner Karte verzeichnete Länder hin, über namenlose Ebenen und unerforschte Wälder. Nach Norden blickte er, und der Große Strom lag wie ein Band unter ihm,
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