Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
hatte nun lange genug zugesehen, und die Sache wurde allmählich gefährlich. Alle seine Glieder waren bleischwer, aber er überwand sich und setzte sich auf. Irgendetwas riet ihm, vorsichtig zu sein und nicht zu verraten, dass er das Selbstgespräch belauscht hatte. Er ließ einen lauten Seufzer los, gefolgt von einem gewaltigen Gähnen.
»Wie spät ist es?«, fragte er verschlafen.
Gollum stieß ein langes Zischen durch die Zähne. Für einen Moment richtete er sich auf, sprungbereit, drohend; dann ließ er sich vornüber fallen und kroch auf allen vieren die Böschung hinauf. »Liebe Hobbits! Lieber Sam!«, sagte er. »Schlafmützen, ja, Schlafmützen! Lassen den guten Sméagol allein wachen. Aber’s ist Abend. Dämmerung kriecht heran. Zeit zu gehn.«
»Höchste Zeit!«, dachte Sam. »Zeit auch, dass wir uns von dir trennen.« Aber dann kamen ihm Zweifel, ob es nicht ebenso gefährlich wäre, Gollum frei herumlaufen zu lassen, wie ihn bei sich zu behalten. »Verfluchter Wicht!«, knurrte er. »Ersticken soll er!« Er stieg die Böschung hinunter und weckte Frodo.
Seltsamerweise fühlte Frodo sich frisch und munter. Er hatte geträumt. Der Schatten hatte sich verzogen, und ein schönes Traumgesicht war ihm erschienen, hier, in diesem kranken, vergifteten Land. Nichts davon blieb ihm im Gedächtnis, dennoch hatte es ihn froh gestimmt, und ihm war leichter ums Herz. Seine Bürde drückte ihn nicht mehr so schwer. Gollum begrüßte ihn mit hündischem Entzücken. Er gluckste und plapperte, schnalzte mit den langen Fingern und tätschelte Frodo die Knie. Frodo lächelte ihn an.
»Lass das!«, sagte er. »Du warst uns ein guter und treuer Führer. Jetzt kommt die letzte Etappe. Bring uns zum Tor, und dann brauchst du nicht weiter mitzugehn. Bring uns zum Tor, und du kannst gehn, wohin du willst – nur nicht zu unsern Feinden.«
»Zum Tor, was?«, kreischte Gollum, anscheinend überrascht und erschrocken. »Zum Tor, sagt der Herr! Ja, sagt er. Und Sméagol,gut, wird tun, was der Herr sagt, o ja! Aber wenn wir näher dran sind, werden wir’s wohl sehn, dann werden wir’s sehn. Sieht überhaupt nicht nett aus – o nein! O nein!«
»Nun geh schon!«, sagte Sam. »Bringen wir’s hinter uns!«
In der hereinbrechenden Dämmerung kletterten sie aus der Grube und suchten sich ihren Weg durch das tote Land. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie von neuem die Furcht spürten, die sie gepackt hatte, als die geflügelte Gestalt über die Sümpfe fegte. Sie hielten an, kauerten sich auf den übelriechenden Boden; aber am trüben Abendhimmel konnten sie nichts sehen, und bald zog die Gefahr vorbei, hoch über ihnen, vielleicht mit einem eiligen Auftrag aus Barad-dûr. Nach einer Weile stand Gollum auf und schlich weiter, zitternd und brabbelnd.
Etwa eine Stunde nach Mitternacht spürten sie dieselbe Gefahr zum dritten Mal, doch diesmal schien sie entfernter zu sein, als stürme sie hoch über den Wolken mit furchtbarer Geschwindigkeit nach Westen. Gollum jedoch, vor Angst wie von Sinnen, war überzeugt, sie würden gejagt und ihre Annäherung sei schon bemerkt worden.
»Dreimal!«, wimmerte er. »Dreimal ist eine Drohung. Sie spüren uns hier, sie spüren den Schatz. Der Schatz ist ihr Herr. Wir können hier nicht weiter, nein! Hat keinen Zweck, keinen Zweck!«
Alles Bitten und Gutzureden half nicht mehr. Erst als Frodo ihn scharf anfuhr und die Hand an den Schwertgriff legte, fügte sich Gollum. Knurrend stand er endlich auf und trottete vor ihnen her wie ein geprügelter Hund.
So stolperten sie weiter durch die müden letzten Stunden der Nacht, stumm und mit gesenkten Köpfen, dem Anbruch eines neuen gefahrvollen Tages entgegen, und sie sahen nichts und hörten nichts als den Wind, der ihnen um die Ohren pfiff.
DRITTES KAPITEL
VOR DEM SCHWARZEN TOR
B evor der nächste Tag graute, war das letzte Stück des Wegs nach Mordor zurückgelegt. Die Sümpfe und die Wüste hatten sie hinter sich. Dunkel gegen den blassen Himmel ragten vor ihnen die drohenden Gipfel der Berge auf.
Nach Westen machte Mordor Front mit der düsteren Kette des Ephel Dúath, des Schattengebirges, nach Norden mit den zerklüfteten Gipfeln und nackten Graten der Ered Lithui, der aschgrauen Berge. Doch wo die beiden Ketten einander trafen, die eigentlich nur Teile eines einzigen großen Walls waren, der die öden Ebenen Lithlad und Gorgoroth und das salzige Núrnen-Binnenmeer umschloss, streckten sie jede einen langen Arm nach Norden aus;
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