Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
gefallen. Hier war eine viel breitere Öffnung im Gestein als alle, an denen sie bisher vorübergekommen waren; und aus ihr drang ein so betäubender Gestank hervor und ein so eindringliches Vorgefühl lauernder Tücke, dass Frodo die Knie weich wurden. Und im gleichen Moment taumelte auch Sam und fiel vornüber.
Gegen die Angst und die Übelkeit ankämpfend, packte Frodo ihn bei der Hand. »Auf!«, sagte er heiser und tonlos. »Da kommt alles her, der Gestank und die Gefahr. Schnell weiter, los!«
Alle Kraft und allen Willen, die er noch hatte, zusammennehmend, half er Sam auf die Beine und zwang die eigenen Beine vorwärts. Sam stolperte neben ihm her. Einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte – endlich sechs Schritte. Vielleicht waren sie an der grässlichen unsichtbaren Öffnung vorüber, vielleicht auch nicht, aber jedenfalls fiel ihnen das Gehen plötzlich leichter, als hätte ein feindlicher Wille sie für den Augenblick losgelassen. Weiter ging es, Schritt für Schritt, immer noch Hand in Hand.
Doch fast sofort standen sie vor einer neuen Schwierigkeit. Der Tunnel gabelte sich, oder so schien es, und im Dunkeln konnten sie nicht erkennen, welcher Weg breiter war oder mehr oder weniger geradeaus führte. Welchen sollten sie nehmen, den linken oder den rechten? Nichts, wonach sie sich richten konnten – doch eine falsche Entscheidung würde fast sicher ihren Tod bedeuten.
»Welchen Weg hat denn Gollum genommen?«, keuchte Sam. »Und wieso hat er nicht gewartet?«
»Sméagol!«, sagte Frodo. Er versuchte zu rufen. »Sméagol!« Aber nur ein Krächzen kam heraus, und der Name erstarb, kaum dass er ihm über die Lippen gekommen war. Keine Antwort, kein Echo, nicht mal ein Lüftchen regte sich.
»Diesmal ist er wirklich auf und davon, glaub ich«, murmelte Sam. »Wahrscheinlich hat er sich’s genauso gedacht, als er uns hierhergebracht hat. Gollum! Wenn du mir noch mal zwischen die Finger kommst, wird es dir leidtun!«
Gleich darauf, im Dunkeln tastend und tappend, fanden sie den Gang zur Linken versperrt: Entweder war es eine Sackgasse, oder ein großer Stein war herabgebrochen. »Dies kann der Weg nicht sein«, hauchte Frodo. »Ob richtig oder falsch, wir müssen den andern nehmen.«
»Und zwar schleunigst!«, japste Sam. »Da ist irgendwas in der Nähe, das schlimmer ist als Gollum. Ich kann es spüren, irgendwas sieht uns an.«
Sie waren erst ein paar Schritte weit gegangen, als hinter ihnen ein bedrohliches Geräusch die dumpfe, wattige Stille zerriss: ein Gurgeln und Brodeln, gefolgt von einem langen, giftigen Zischen. Sie fuhren herum, aber zu sehen war nichts. Wie versteinert blieben sie stehen, starrten in die Dunkelheit und warteten auf wer weiß was.
»Eine Falle!«, sagte Sam und legte die Hand an den Schwertgriff; dabei dachte er an die Dunkelheit in dem Hügelgrab, aus dem die Waffe stammte. »Wenn doch bloß der alte Tom jetzt da wäre!«, dachte er. Dann, aus der Finsternis, in der er stand, schwarze Wut und Verzweiflung im Herzen, glaubte er, ein Licht zu sehen, ein inneres Licht, aber zuerst fast unerträglich hell, wie der erste Sonnenstrahl in den Augen eines Gefangenen, der lange in einem fensterlosen Loch gelegen hat. Dann nahm das Licht Farben an: grün, golden, silbern, weiß. In weiter Ferne, klein wie auf einem mit Elbenfingern gemalten Bild, sah er Frau Galadriel auf der Wiese in Lórien stehen, die Abschiedsgeschenke in den Händen. Und für dich nun, Ringträger, hörte er sie sagen, deutlich, obwohl von fern, habe ich dies bereitet.
Das brodelnde Zischen kam näher, und sie hörten ein Knarren wie von großen Gliedmaßen, die sich langsam und zielstrebig durch die Dunkelheit bewegten. Den Geräuschen wehte ein wüster Gestank voraus. »Master, Master!«, rief Sam, und Leben und Tatkraft füllte wieder seine Stimme. »Das Geschenk der hohen Frau! DasSternglas! Ein Licht sollte es an dunklen Orten für dich sein, hat sie gesagt. Das Sternglas!«
»Das Sternglas?«, murmelte Frodo, als antworte er aus dem Schlaf heraus, fast ohne zu verstehen. »Ach ja! Warum hatte ich es vergessen? Ein Licht, wenn alle andern Lichter erlöschen! Und jetzt kann uns in der Tat nur noch Licht helfen.«
Langsam griff er in die Brusttasche, und langsam streckte er Galadriels Phiole vor sich in die Höhe. Zuerst flimmerte sie nur schwach wie ein aufgehender Stern, der dichte Erdennebel durchdringt; dann, als sie an Kraft gewann und in Frodo die Hoffnung stärkte, begann sie zu glühen und
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