Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
und jeder Schritt trug sie höher über die Dünste der unsichtbaren stinkenden Höhle hinauf, und sie kamen wieder zu Kräften an Herz und Gliedern. Aber noch immer lauerte hinter ihnen die Wächterin in ihrem Hass, und mochte sie auch für eine Weile geblendet sein, war sie doch unbesiegt und ihre Mordlust ungestillt. Und nun kam ihnen ein Luftstrom entgegen, kalt und dünn. Das Ende des Stollens, der Ausgang war endlich erreicht. Keuchend, begierig, ins Freie zu kommen, stürmten sie vorwärts – und dann, verblüfft, prallten sie taumelnd zurück. Ein Hindernis versperrte ihnen den Weg, doch keines von Stein: weich und ein wenig nachgebend, doch fest und undurchdringlich. Luft strömte hindurch, aber kein Schimmer von Licht. Noch einmal rannten sie dagegen an, und wieder wurden sie zurückgeschleudert.
Die Phiole hochhaltend sah Frodo etwas Graues vor sich, das die Strahlen des Sternglases weder durchdrangen noch erhellten, als wäre dies ein Schatten, der, in keinem Licht geworfen, auch von keinem Licht zerstreut werden konnte. Über die ganze Höhe undBreite des Stollens war ein Netz gesponnen, ordentlich wie das Netz einer riesigen Spinne, aber dichter und viel größer, aus Fäden, von denen jeder dick wie ein Seil war.
Sam lachte grimmig. »Spinnweben!«, sagte er. »Weiter nichts? Aber was für eine Spinne! Weg mit euch! Runter mit euch!«
In heller Wut hieb er mit dem Schwert nach ihnen, doch der Faden, den er traf, riss nicht. Er gab ein wenig nach und schnellte dann zurück wie eine Bogensehne, dass die Schneide abglitt und Schwert und Arm hochgeschleudert wurden. Dreimal schlug Sam mit aller Kraft zu, und zuletzt riss wenigstens einer der zahllosen Fäden und wand sich peitschend durch die Luft. Das eine Ende traf Sam an der Hand, und er schrie auf vor Schmerz, sprang zurück und leckte sich die Hand.
»Das wird Tage dauern, bis wir auf diese Weise den Weg freibekommen«, sagte er. »Was machen wir bloß? Sind diese Augen wieder da?«
»Nein, nichts zu sehen«, sagte Frodo. »Aber ich habe immer noch das Gefühl, dass sie mich ansehen oder sich über mich Gedanken machen: irgendeinen neuen Plan aushecken, vielleicht. Wenn dieses Licht gesenkt würde oder erlösche, wären sie ganz schnell wieder da.«
»Sind wir am Ende also doch gefangen!«, sagte Sam erbittert, und seine Wut überstieg wieder seine Müdigkeit und Verzweiflung. »Wie Mücken im Netz. Faramirs Fluch soll diesen Gollum erwischen, und zwar schnell!«
»Das würde uns jetzt nicht helfen«, sagte Frodo. »Komm, sehn wir mal, was Stich leisten kann; das ist eine Elbenklinge. Solche Schreckensgespinste gab es auch in den dunklen Schluchten von Beleriand, wo es geschmiedet wurde. Du musst Wache stehen und uns die Augen fernhalten. Hier, nimm du das Sternglas! Hab keine Angst! Halt es hoch und gib acht!«
Frodo trat an das große graue Netz heran, zog die scharfe Schneide mit einem weit ausholenden Streich quer über eine Bahn dicht verknüpfter Schnüre und sprang einen Schritt zurück. Die blau schimmernde Klinge fuhr hindurch wie eine Sense durchs Gras, und die Schnüre zuckten und zappelten und hingen dann lose herab. Ein großer Riss klaffte im Netz. Ein ums andere Mal schlug er zu, bis alles Gespinst, das er erreichen konnte, zerfetzt am Boden lag und das obere Stück im hereinwehenden Wind flatterte wie ein Vorhang am offenen Fenster. Die Falle war aufgebrochen.
»Los!«, rief Frodo. »Weiter, weiter!« Eine wilde Freude packte ihn, dass sie aus diesem Schlund der Verzweiflung entkommen waren. Ihm war schwindlig wie nach einem Becher starken Weins. Mit einem Schrei sprang er ins Freie.
Hell war es selbst in diesem dunklen Land für seine Augen, die durch die Höhlennacht gegangen waren. Die schweren Rauchwolken waren höher aufgestiegen und dabei dünner geworden; die letzten Stunden eines trüben Tages gingen zu Ende; und der rote Glutschein über Mordor war zu einem stumpfen Glosen niedergebrannt. Und doch war es Frodo, als blickte er in die Morgenröte einer neuen Hoffnung. Fast hatten sie nun den höchsten Punkt des Gebirgswalls erreicht. Nur noch ein kleines Stück höher sah er die Spalte vor sich, Cirith Ungol, eine blasse Kerbe in dem schwarzen Gebirgskamm, mit den dunkel in den Himmel aufragenden Felshörnern zu beiden Seiten. Nur noch eine kleine Anstrengung, ein Spurt, und er wäre hindurch!
»Der Pass, Sam!«, rief er aus voller Kehle, und nach der Erlösung aus den würgenden Dünsten des Stollens schallte seine
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