Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
fürchterlich still. Die Fackel, die schon heruntergebrannt gewesen war, als er kam, zischte und erlosch; und die Dunkelheit überspülte ihn wie eine Welle. Und dann, zur eigenen Überraschung und ohne zu wissen, wie er auf den Gedanken gekommen war, am schmerzlichen Ende seiner langen, vergeblichen Fahrt, begann Sam leise zu singen.
Seine Stimme klang dünn und flatternd in dem kalten, dunklen Turm: die Stimme eines müden, verirrten Hobbits, und kein Ork, der ihn belauschte, hätte sie mit der klaren und mächtigen Stimme eines Elbenkriegers verwechseln können. Er brummte alte, kindische Weisen aus dem Auenland vor sich hin und kurze Stücke aus Herrn Bilbos Gedichten, wie sie ihm gerade einfielen, vorüberwehende Bilder aus seinem Heimatland. Und plötzlich, von einer neuen Kraft getragen, schwang seine Stimme sich zu vollen Tönen auf, und zwanglos kamen ihm zu der einfachen Melodie eigene Worte zugeflogen.
Im hellen Westen blüht es schon,
Von Knospen schwillt der Baum,
Die Finken üben ihren Ton,
Der Wildbach quirlt im Schaum.
Vielleicht auch steht die klare Nacht
Den Buchen ins Gezweig,
Hat ihnen Sterne zugedacht
Als elbisches Geschmeid.
Lieg ich auch hier zu guter Letzt
In tiefster Finsternis
Wie ausgeblutet, wie zerfetzt,
Es ist mir doch gewiss:
Die Sonne zieht die hohe Bahn,
Der Stern den milden Lauf,
Solang der Tag noch nicht vertan,
Geb ich den Sieg nicht auf.
»Lieg ich auch hier zu guter Letzt«, setzte er zur Wiederholung an, aber dann verstummte er jäh. Er glaubte, eine schwache Stimme gehört zu haben, die antwortete. Aber nun hörte er nichts mehr. Doch, da hörte er etwas, aber keine Stimme. Schritte kamen näher. Im Gang über ihm ging leise eine Tür auf; die Angeln quietschten ein wenig. Sam duckte sich und horchte. Mit einem dumpfen Knall fiel die Tür zu, und eine Orkstimme belferte: »Heda, du Mistkäfer da oben! Schluss mit dem Gepiepse, oder ich komme rauf und stopfe dir’s Maul! Verstanden?«
Keine Antwort.
»Na schön«, knurrte Snaga. »Aber ich geh wohl trotzdem mal rauf und seh, was du da treibst.«
Wieder quietschten die Angeln, und über die Kante der obersten Treppenstufe spähend, sah Sam ein Licht hinter einer offenen Tür flackern und die undeutlichen Umrisse des Orks, der herauskam. Er schien eine Leiter zu tragen. Plötzlich war es Sam klar: Zur obersten Kammer im Turm kam man durch eine Falltür in der Decke des Ganges. Snaga stellte die Leiter an und befestigte sie, stieg hinauf und war nicht mehr zu sehen. Sam hörte, wie ein Riegel zurückgezogen wurde. Dann sprach schon wieder die unfreundliche Stimme.
»Lieg schön still, oder es setzt was! Ein langes ruhiges Leben hast du sowieso nicht mehr vor dir; aber wenn du nicht willst, dass der Tanz gleich jetzt losgeht, dann hältst du die Klappe, verstanden? Da, zur Erinnerung!« Ein Knall wie von einer Peitsche war zu hören.
Rasend vor Wut rannte Sam zu der Leiter und huschte hinauf wie eine Katze. Sein Kopf tauchte in der Mitte einer großen runden Kammer über den Fußboden auf. Eine rote Lampe hing an der Decke; der Fensterschlitz an der Westseite war hoch und dunkel. An der Wand unter dem Fenster lag etwas auf dem Boden, und breitbeinig darüber stand ein Ork. Er hob die Peitsche zum zweiten Mal, aber der Schlag fiel nie.
Mit einem Schrei ging Sam auf ihn los, Stich in der Faust. Der Ork fuhr herum, aber schon hatte Sam ihm die Peitschenhand vom Arm gehauen. Brüllend vor Schmerz und Angst, aber mit dem Mut der Verzweiflung rannte der Ork mit gesenktem Kopf gegen ihn an. Sams nächster Schlag ging daneben, er verlor das Gleichgewicht und wurde hintenübergeworfen, klammerte sich an dem Ork fest, der über ihn hinwegstolperte. Bevor er sich aufrappeln konnte, hörte er einen Schrei und einen Schlag. In seiner Hast war der Ork an der obersten Leitersprosse fehlgetreten und durch die offene Falltür gestürzt. Sam verlor keinen Gedanken mehr an ihn. Er rannte zu der am Boden liegenden Gestalt. Es war Frodo.
Er war nackt und lag wie ohnmächtig auf einem Haufen schmutziger Lumpen. Den einen Arm hatte er zum Schutz über den Kopf erhoben, und über die Seite lief ihm ein hässlicher Peitschenstriemen.
»Frodo! Herr Frodo, mein Lieber!«, rief Sam, fast blind vor Tränen. »Ich bin’s, Sam, ich bin da!« Halb hob er seinen Master auf, halb drückte er ihn an die Brust. Frodo schlug die Augen auf.
»Träum ich noch?«, murmelte er. »Aber die andern Träume waren schrecklich.«
»Du träumst
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