Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
könnte ich dich sehen, solange die Sonne noch am Himmel steht. Denn du und ich, wir sind beide unter die Schwingen des Schattens geraten, und dieselbe Hand hat uns zurückgeholt.«
»Ach, mich nicht, mein Herr!«, sagte sie. »Auf mir liegt der Schatten noch immer. Erwarte von mir keine Heilung. Eine Schildjungfrau bin ich, und meine Hand ist nicht sanft. Aber dafür wenigstens lass mich dir danken, dass ich nicht mehr mein Zimmer hüten muss. Mit Erlaubnis des Herrn Statthalters werde ich in den Garten gehn können.« Und sie verneigte sich und wandte sich zum Haus zurück. Faramir aber ging noch lange allein durch den Garten, und sein Blick wanderte nun öfter zum Haus als zu den Ostwällen hin.
Auf sein Zimmer zurückgekehrt, rief er den Wart und ließ sich von ihm berichten, was er über die Herrin von Rohan zu sagen wusste.
»Doch hab ich keinen Zweifel, Fürst«, sagte der Mann, »dass Ihrvon dem Halbling mehr erfahren würdet, der bei uns ist; denn er ist mit den Reitern des Königs gekommen und am Ende bei der hohen Frau gewesen, wie man mir sagt.«
Und so wurde Merry zu Faramir gebeten, und bis der Tag zur Neige ging, redeten sie lange miteinander; und Faramir erfuhr vieles, mehr sogar, als Merry in Worten aussprach; und nun glaubte er, den Kummer und die Unruhe von Éowyn von Rohan besser zu verstehen. Und an diesem schönen Abend gingen Faramir und Merry zusammen durch den Garten, doch Éowyn kam nicht.
Am Morgen aber, als Faramir aus den Häusern trat, sah er sie auf der Mauer stehen; und sie war ganz in Weiß gekleidet und schimmerte in der Sonne. Und er rief sie, und sie kam herab, und zusammen gingen sie über das Gras oder setzten sich unter einen grünen Baum, bald schweigend, bald im Gespräch. Und als der Wart aus seinem Fenster schaute, war er von Herzen froh, denn er war ein Heiler, und dies nahm ihm einige Sorgen ab; denn so sehr auch die Befürchtungen und Vorahnungen dieser Tage die Menschen bedrückten, war doch so viel gewiss, dass unter seinen Pfleglingen diese beiden gute Fortschritte machten und täglich kräftiger wurden.
Und so kam der fünfte Tag, seit Frau Éowyn zum ersten Mal Faramir aufgesucht hatte; und wieder standen sie auf der Stadtmauer und schauten hinaus. Noch immer waren keine Nachrichten eingetroffen, und allen war schwer ums Herz. Auch das Wetter war nicht mehr so mild; es war kalt geworden, und in der Nacht war ein scharfer Wind von Norden gekommen, der noch zunahm; und das Land sah grau und öd aus.
Sie hatten warme Kleider und dicke Mäntel angezogen, und über allem trug Frau Éowyn einen sommernachtblauen Umhang, der an Saum und Kragen mit silbernen Sternen besetzt war. Faramir hatte danach geschickt und ihn ihr umgelegt; und er fand, dass sie schön und sogar königlich darin aussah, als sie neben ihm stand. Der Umhang war für seine Mutter, Finduilas von Amroth, angefertigt worden, die früh gestorben und für ihn nur noch eine Erinnerung an dasSchöne aus fernen Tagen und an seinen ersten großen Kummer war; und ihr Gewand schien ihm Éowyns Kummer und Schönheit würdig zu kleiden.
Aber nun zitterte sie unter dem Sternenmantel und blickte nach Norden, dem kalten Wind entgegen, dahin, wo der Himmel in der Ferne hart und hell war.
»Wonach hältst du Ausschau, Éowyn?«, sagte Faramir.
»Liegt nicht das Schwarze Tor in dieser Richtung?«, sagte sie. »Und muss er nicht dort nun hinkommen? Vor sieben Tagen ist er fortgeritten.«
»Sieben Tage«, sagte Faramir. »Doch denk nicht schlecht von mir, wenn ich dir sage, sie haben mir eine Freude und eine Qual bereitet, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Die Freude, dich zu sehen; die Qual in der Angst und Ungewissheit dieser finsteren Stunden. Éowyn, ich möchte nicht, dass unsere Welt schon endet, und ich möchte nicht so bald verlieren, was ich eben erst gefunden habe.«
»Verlieren, was du eben erst gefunden hast, mein Herr?«, antwortete sie, aber sie sah ihn ernst und mit freundlichen Augen an. »Ich weiß nicht, was du in diesen Tagen gefunden hast, das du verlieren könntest. Doch bitte, mein Freund, sprechen wir nicht davon! Sprechen wir überhaupt nicht! Ich stehe am Rand eines Abgrunds, und vor meinen Füßen ist alles dunkel, aber ob hinter mir Licht ist, kann ich nicht sagen. Ich kann mich noch nicht umsehen. Ich warte auf einen Schicksalsschlag.«
»Ja, wir warten auf den Schicksalsschlag«, sagte Faramir. Und dann redeten sie nicht mehr; und als sie auf der Mauer standen, schien es
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