Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
ihnen, dass der Wind erstarb, das Licht schwand und die Sonne sich trübte und alle Geräusche aus der Stadt oder dem Land ringsum erstickten: Weder der Wind war zu hören noch eine Stimme oder ein Vogelruf, kein Rascheln von Blättern, weder der eigene Atem noch das Klopfen ihrer Herzen. Die Zeit stand still.
So standen sie, und ihre Hände trafen und verschränkten sich,ohne dass sie es merkten. Und noch immer warteten sie und wussten nicht, auf was. Dann schien plötzlich über den Kämmen des fernen Gebirges ein noch gewaltigerer dunkler Berg in die Höhe zu wachsen und sich aufzutürmen wie eine Woge, bereit, die Welt unter sich zu begraben. Blitze umzuckten ihn; und ein Beben lief durch den Erdboden, das die Mauern der Stadt erzittern ließ. Von überall aus dem Land stieg ein Ton wie ein Ächzen auf; und plötzlich spürten sie wieder, dass ihre Herzen schlugen.
»Das erinnert mich an Númenor«, sagte Faramir und war erstaunt, sich sprechen zu hören.
»An Númenor?«, sagte Éowyn.
»Ja«, sagte Faramir, »an Westernis, das versunkene Land, und an die große dunkle Woge, wie sie über die Wiesen flutet und über die Berge und immer weiter, eine unentrinnbare Dunkelheit. Ich träume oft davon.«
»Dann glaubst du, dass jetzt die Dunkelheit hereinbricht?«, sagte Éowyn. »Eine unentrinnbare Dunkelheit?« Und plötzlich lehnte sie sich an ihn.
»Nein«, sagte Faramir und sah ihr ins Gesicht. »Es war nur ein Bild vor dem inneren Auge. Ich weiß nicht, was jetzt geschieht. Im Wachen sagt mir die Vernunft, dass ein großes Unglück geschehen ist und dass unsere Tage zu Ende gehn. Aber mein Herz sagt nein dazu; und alle Glieder werden mir leicht, und eine Freude und Hoffnung überkommt mich, die die Vernunft nicht leugnen kann. Éowyn, Éowyn, Weiße Herrin von Rohan, in dieser Stunde glaube ich nicht, dass die Dunkelheit von Dauer sein kann!« Und er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn.
Und so standen sie auf der Mauer der Hauptstadt von Gondor, und ein starker Wind kam auf und zauste ihnen die Haare, und sein schwarzes vermischte sich flatternd mit ihrem goldblonden. Der Schatten verzog sich, die Sonne trat hervor, und Licht flutete über das Land; und die Wasser des Anduin glänzten wie Silber, und in allen Häusern der Stadt sangen die Menschen vor Freude, die sie erfüllte, ohne dass sie wussten, warum.
Und bevor die Sonne weit von der Mittagshöhe herabgesunken war, kam von Osten ein großer Adler geflogen und brachte von den Fürsten des Westens Nachricht, die alle Hoffnungen überstieg, und er rief:
Singet nun, ihr Menschen des Turms von Anor,
Denn Saurons Reich ist für immer dahin
Und der Dunkle Turm liegt in Trümmern.
Singet und frohlocket, ihr Männer des Wachtturms,
Denn nicht vergebens habt ihr gewacht.
Das Schwarze Tor ist zerbrochen,
Und euer König hat es durchschritten,
Und er ist siegreich.
Singet und seid froh, all ihr Kinder des Westens,
Denn euer König kehrt wieder
Und wird unter euch weilen
Zeit eures Lebens.
Und ein Weißer Baum wird wieder blühen,
An hoher Stelle pflanzt ihn der König,
Und gesegnet sein wird die Stadt.
Singet nun alle!
Und das Volk sang auf allen Straßen der Stadt.
Die Tage, die folgten, waren Festtage, denn Frühling und Sommer trafen sich und feierten zusammen auf den Feldern von Gondor. Reitende Boten kamen nun von Cair Andros mit Berichten von allem, was geschehen war, und die Stadt machte sich bereit, den König zu empfangen. Merry wurde ins Feldlager berufen und fuhr mit den Wagen, die Vorräte nach Osgiliath brachten, und von dort zuSchiff nach Cair Andros; Faramir aber blieb, denn da er nun genesen war, trat er sein Amt als Statthalter an, wenngleich nur für kurze Zeit und mit der Aufgabe, alles vorzubereiten für den, der ihn ablösen sollte.
Und auch Éowyn blieb, obwohl ihr Bruder Nachricht gab und sie bat, zum Feld von Cormallen zu kommen. Dies wunderte Faramir, doch sah er sie nun selten, denn er hatte viel in Amtsgeschäften zu tun; und noch immer wohnte sie in den Häusern der Heilung und ging allein im Garten umher, und ihr Gesicht wurde wieder bleich; und in der ganzen Stadt schien sie allein Schmerz und Kummer zu leiden. Und der Heilwart machte sich Sorgen und sprach mit Faramir.
Da kam Faramir und besuchte sie, und als sie wieder zusammen auf der Mauer standen, da sagte er: ȃowyn, warum bleibst du hier und gehst nicht zu den Freudenfesten in Cormallen hinter der Insel Cair Andros, wo dich dein Bruder
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