Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
erwartet?«
Und sie sagte: »Weißt du das nicht?«
Er aber sagte: »Zwei Gründe kann es geben, aber welcher es ist, weiß ich nicht.«
Und sie sagte: »Lass mich nicht Rätsel raten! Sag es deutlicher!«
»Wie du willst, hohe Frau«, sagte er. »Entweder gehst du nicht hin, weil nur dein Bruder dich gerufen hat und weil es dir nun keine Freude macht, den Herrn Aragorn, Elendils Erben, als Sieger zu sehen. Oder aber, weil ich nicht hingehe und du mir nah bleiben möchtest. Aber vielleicht auch aus beiden Gründen, und du weißt selbst nicht, aus welchem. Éowyn, liebst du mich nicht, oder willst du mich nicht lieben?«
»Ich wäre gern von einem andern geliebt worden«, antwortete sie. »Aber Mitleid will ich von keinem Mann.«
»Das weiß ich«, sagte er. »Du sehntest dich nach Herrn Aragorns Liebe. Weil er edel und königlich ist und weil du durch Ruhm und Glanz weit über uns gemeinen Diener, die am Boden kriechen, erhoben zu werden wünschtest. Und wie ein junger Soldat einen großen Kriegshauptmann bewundert, so hast du ihn bewundert. Und er verdient es, denn er ist ein Großer unter den Menschen, der Größteheutzutage. Aber als er dir nur Verständnis und Mitleid bezeigen konnte, da wolltest du lieber gar nichts, es sei denn den Heldentod in der Schlacht. Sieh mich an, Éowyn!«
Und Éowyn sah Faramir lange unverwandt an; und Faramir sagte: »Verschmähe nicht Mitleid, Éowyn, wenn es aus ehrlichem Herzen kommt! Doch was ich dir biete, ist kein Mitleid. Denn du bist eine edle und kühne Herrin und hast selbst unvergesslichen Ruhm erlangt; und schöner erscheinst du mir, als selbst in elbischer Zunge zu sagen wäre. Und ich liebe dich. Zuerst hast du mir nur leidgetan in deinem Kummer. Jetzt aber, und wärest du auch frei von allem Leid, aller Furcht und jedem Mangel, wärest du die strahlende Königin von Gondor, würde ich dich dennoch lieben. Éowyn, liebst du mich nicht?«
Da wandelte sich Éowyns Sinn, oder zumindest verstand sie ihn nun. Und plötzlich war es für sie nicht mehr Winter, und die Sonne schien.
»Da steh ich in Minas Anor, dem Turm der Sonne«, sagte sie, »und sieh da, der Schatten ist fort! Ich will keine Schildjungfrau mehr sein und mich mit unseren großen Reitern im Kampf messen; ich will mich auch nicht mehr nur an blutigen Liedern erfreuen. Eine Heilkundige will ich werden und alles lieben, was wächst und Frucht trägt.« Und wieder sah sie Faramir an. »Königin zu werden, lockt mich nicht mehr.«
Da lachte Faramir erleichtert. »Dann ist es gut«, sagte er, »denn ich bin nun mal kein König. Dann kann ich die weiße Dame von Rohan heiraten, wenn sie einverstanden ist. Und wenn sie will, dann gehen wir über den Fluß und verleben unsere glücklicheren Tage im schönen Ithilien. Lass uns dort einen Garten bestellen! Alles wird freudig wachsen und gedeihen, wenn die weiße Dame kommt.«
»Muss ich dann mein Volk verlassen, einem Mann aus Gondor zuliebe?«, sagte sie. »Und wird deine hochmütige Sippschaft nicht sagen: ›Seht mal, ein junger Mann aus gutem Hause, der sich eine wilde Schildjungfrau aus dem Norden gezähmt hat! Hat er denn keine von númenórischem Geblüt gefunden?‹«
»Sollen sie nur reden!«, sagte Faramir. Und dann nahm er sie in die Arme und küsste sie bei helllichtem Tage, und es kümmerte ihn überhaupt nicht, dass sie weithin sichtbar oben auf der Mauer standen. Und tatsächlich hatten sie viele Zuschauer, und ein Lichtschimmer schien ihnen zu folgen, als sie Hand in Hand von der Mauer herabstiegen und zu den Häusern der Heilung gingen.
Und zu dem Wart der Häuser sagte Faramir: »Hier siehst du die Jungfrau Éowyn von Rohan, und sie ist nun geheilt.«
Und der Wart sagte: »Dann entlasse ich sie aus meiner Obhut und sage ihr Lebewohl. Möge sie nie wieder eine Wunde oder Krankheit erleiden! Ich gebe sie in die Obhut des Statthalters, bis ihr Bruder zurückkehrt.«
Doch Éowyn sagte: »Jetzt aber, da man mir erlaubt zu gehen, möchte ich bleiben. Denn dieses Haus ist mir die liebste aller Wohnungen geworden.« Und sie blieb, bis König Éomer wiederkam.
Alles wurde nun in der Stadt für den Empfang bereitgemacht; und viel Volk strömte herbei, denn die Nachrichten waren in alle Landesteile gedrungen, vom Min-Rimmon bis zu den Pinnath Gelin und den fernen Meeresküsten, und wer irgend konnte, beeilte sich zu kommen. Nun sah man wieder schöne Frauen und Kinder in der Stadt, die blumenbeladen in ihre Häuser zurückkehrten; und aus Dol
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