Der Herr der Ringe
haben, können doch durch sie sterben. Möchtet Ihr, dass das Volk von Gondor nur Kräuter sammelt, wenn der Dunkle Herrscher Heere sammelt? Es ist nicht immer gut, körperlich geheilt zu werden, und nicht immer schlecht, in der Schlacht zu sterben, selbst in bitterer Qual. Wenn ich dürfte, würde ich in dieser dunklen Stunde das Letztere wählen.«
Der Vorsteher sah sie an. Aufrecht stand sie da, ihre Augen leuchteten in ihrem bleichen Gesicht, ihre rechte Hand ballte sich, als sie sich umwandte und aus dem Fenster starrte, das nach Osten ging. Er seufzte und schüttelte den Kopf. Nach einer Weile drehte sie sich wieder um.
»Ist keine Tat zu vollbringen?«, fragte sie. »Wer befiehlt in dieser Stadt?«
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete er. »Um solche Dinge kümmere ich mich nicht. Da ist ein Marschall der Reiter von Rohan; und der Herr Húrin hat, wie ich höre, den Befehl über die Mannen von Gondor. Aber von Rechts wegen ist Herr Faramir der Truchsess der Stadt.«
»Wo kann ich ihn finden?«
»In diesem Hause, Herrin. Er war schwer verwundet, ist aber jetzt auf dem Wege der Besserung. Doch weiß ich nicht …«
»Wollt Ihr mich zu ihm bringen? Dann werdet Ihr es wissen.«
Herr Faramir ging allein im Garten der Häuser der Heilung spazieren, und das Sonnenlicht wärmte ihn, und er spürte neues Leben in seinen Adern; doch das Herz war ihm schwer, und er blickte über die Wälle gen Osten. Und als sie kamen, sprach der Vorsteher seinen Namen, und er wandte sich um und sah Frau Éowyn von Rohan; und er wurde von Mitleid ergriffen, denn er sah, dass sie verwundet war, und sein scharfer Blick erkannte ihren Kummer und ihre Unrast.
»Herr«, sagte der Vorsteher, »hier ist Frau Éowyn von Rohan. Sie ritt mit dem König und wurde schwer verwundet und ist nun in meiner Obhut. Aber sie ist nicht zufrieden und wünscht mit dem Truchsess der Stadt zu sprechen.«
»Missversteht ihn nicht, Herr«, sagte Éowyn. »Nicht mangelnde Pflege bekümmert mich. Keine Häuser könnten schöner sein für jene, die Heilung begehren. Aber ich kann nicht träge daliegen, untätig, eingesperrt. Ich suchte den Tod in der Schlacht. Aber ich bin nicht gestorben, und die Schlacht geht weiter.«
Auf ein Zeichen von Faramir verbeugte sich der Vorsteher und zog sich zurück. »Was möchtet Ihr, dass ich tue, Herrin?«, fragte Faramir. »Auch ich bin ein Gefangener der Heiler.« Er schaute sie an, und da er ein Mann war,den Jammer zutiefst rührte, schien es ihm, dass ihre Schönheit bei all ihrem Kummer ihm das Herz durchbohrte. Und sie blickte ihn an und sah die ernste Weichheit in seinem Blick und wusste dennoch, denn sie war unter Kriegern aufgewachsen, dass hier einer war, den kein Reiter der Mark in der Schlacht übertreffen würde.
»Was wünscht Ihr?«, fragte er noch einmal. »Wenn es in meiner Macht liegt, will ich es tun.«
»Ich wollte, Ihr würdet diesem Vorsteher befehlen, mich gehen zu lassen«, sagte sie. Aber obwohl ihre Worte noch stolz klangen, wurde ihr Herz unsicher, und zum ersten Mal zweifelte sie an sich selbst. Sie glaubte, dieser kühne Mann, der streng und zugleich gütig war, könnte sie für launisch halten, wie ein Kind, das nicht beharrlich genug ist, um eine langweilige Aufgabe zu Ende zu führen.
»Ich selbst bin in der Obhut des Vorstehers«, antwortete Faramir. »Auch habe ich mein Amt in der Stadt noch nicht übernommen. Doch hätte ich es getan, so würde ich immer noch auf seinen Rat hören und mich in Fragen seiner Heilkunst seinem Wunsch nicht widersetzen, es sei denn in einer Notlage.«
»Aber ich möchte nicht geheilt werden«, sagte sie. »Ich will in den Krieg reiten wie mein Bruder Éomer, oder besser wie König Théoden, denn er starb und hat nun Ehre und Frieden.«
»Es ist zu spät, Herrin, den Heerführern zu folgen, selbst wenn Ihr die Kraft hättet«, sagte Faramir. »Doch der Tod in der Schlacht mag uns alle noch ereilen, ob wir wollen oder nicht. Ihr werdet besser darauf vorbereitet sein, ihm auf Eure Weise ins Angesicht zu sehen, wenn Ihr tut, was die Heiler Euch befehlen, solange noch Zeit ist. Ihr und ich, wir müssen die Stunden des Wartens in Geduld ertragen.«
Sie antwortete nicht, aber als er sie anschaute, schien ihm, dass etwas in ihr weich wurde, als ob ein bitterer Frost vor der ersten schwachen Vorahnung des Frühlings zurückwich. Eine Träne trat in ihr Auge und rann ihr über die Wange wie ein schimmernder Regentropfen. Ihr stolzer Kopf senkte sich ein
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