Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)
sich an eine wie sie anzuschleichen! Er huschte von Schatten zu Schatten und umkreiste das Lager eine Ewigkeit lang, denn er wusste, wenn er das leiseste Geräusch verursachte – einen Ast abknickte oder auf einen Käfer trat –, würde sie ihre Feder ansetzen und ihn verschwinden lassen. Während er sie umschlich, sah er ihren legendären Mantel, den Hut und den aufklaffenden Mund.« Tarzi verzerrte ihr Gesicht, das zwar kaum Ähnlichkeit mit dem der Diebin hatte, aber dennoch ihre Zuhörer erschreckte.
»Es heißt, sie hat den Mund des Todes!«, keuchte Borry.
Tarzi nickte. »Dennoch verbarg sich Rostigan weiter lautlos in den Bäumen. Und dann, als er nahe genug war, holte er langsam mit dem großen Schwert aus …« Tarzi hob die Hände über den Kopf, » … und ließ es auf ihren Schädel herabsausen!« Sie schlug mit der eingebildeten Klinge zu, sodass die Leute an den vordersten Tischen zurückwichen. Hinter dem Schanktisch verdrehte der Wirt die Augen.
Rostigan wusste, es war noch nicht die spannende Geschichte, die sich Tarzi gewünscht hatte. Bei jeder Wiederholung würde sie die Erzählung etwas weiter ausschmücken.
»Aber dieser Hieb allein führte nicht zu ihrem Ende«, erzählte sie weiter. »Obwohl Rostigan sie auf das Feuer warf, so wie die Ritter in den alten Legenden. Sie trat um sich und heulte und verbrannte wie jeder andere zu Asche und Staub. Ich habe es gesehen und kann es euch sagen – sie wird der Welt kein Ungemach mehr bereiten.«
Die Gesichter der Zuschauer zeigten gemischte Gefühle – manche waren erleichtert, andere misstrauisch.
»Stimmt das wirklich?« Ein Bärtiger, der beim Trinken Mut gefasst hatte, zeigte auf Rostigan. »Kannst du ihre Geschichte bestätigen?«
Rostigan klopfte seine Pfeife aus. Es ärgerte ihn, in die Sache hineingezogen zu werden, allerdings war das jetzt unausweichlich. »Ja.«
»Und du bist wirklich Rostigan Schädelspalter?«
Er neigte den Kopf.
»Wo ist dann Silberstein?«, fragte jemand.
»Ist es wieder aufgetaucht, nachdem du sie getötet hast? Die Bardin hat gesagt, das ist vor zwei Tagen geschehen, aber wir haben seitdem weitere Berichte erhalten.«
»Wir haben Silberstein nicht wiedergesehen«, bestätigte Tarzi.
Das rief allgemeine Erschütterung hervor.
»Wieso sollte es sich dann um die Diebin gehandelt haben?«, fragte der Bärtige. »In allen Geschichten heißt es, ihr Tod habe ihre Opfer zurückgebracht.«
Tarzi breitete die Hände aus. »Wie ich euch schon gesagt habe, geht es hier nicht um irgendeine Legende. Ich kann nur schildern, was sich wirklich ereignet hat.«
Verwirrung machte sich breit. War die Sache wieder ins Lot gebracht? Blieb die Bedrohung bestehen, oder war sie beendet? Falls sie überhaupt je existiert hatte.
Rostigan seufzte und trank einen Schluck Bier. Er hatte sie gewarnt.
»Hast du dir nicht einfach etwas ausgedacht, Bardin?«
»Meinst du, sie will uns zum Narren halten?«
»Vielleicht hofft sie auf ein paar Münzen.«
Rostigans Stuhl scharrte laut über den Boden, als er aufstand, und alle verstummten.
»Ich bin Rostigan Schädelspalter«, sagte er, »und ich will nicht so tun, als würde ich verstehen, wie die Kräfte der Wächter funktionieren. Bist du ein Fachmann auf diesem Gebiet?«, fragte er den Bärtigen. »Kennst du dich mit den alten Fadenwirkern aus?«
Dem Mann war unbehaglich zumute, weil er persönlich angesprochen wurde, und er schüttelte den Kopf.
»Das habe ich mir gedacht. Ich sag euch aber, wovon ich etwas verstehe – vom Tod. Und eins kann ich euch versprechen: Die Diebin ist tot. Gestorben durch meine Hand.« Es ließ ihnen Zeit, das zu verdauen. »Dennoch habt ihr recht, beunruhigt zu sein, denn sie war nur eine von achten. Wenn andere ebenfalls zurückgekehrt sind, schweben wir alle vielleicht in großer Gefahr.«
»Seid ihr hier, um dem Ruf von König Braston zu folgen?«, fragte jemand auf der anderen Seite des Raums.
Darauf war Rostigan nicht gefasst. Der Sprecher, ein Fadenwirker, erkannte er beklommen, stand an der Tür und war, wie man an seinem feuchten Haar sah, gerade eingetroffen, denn draußen regnete es. Erleichtert erkannte Rostigan ein Abzeichen in Form einer Schriftrolle auf der Brust des Mannes. Es handelte sich um das traditionelle Zeichen der Boten, und Fadenwirker, die sich mit der eher weltlichen Kunst des Sendens und Empfangens von Worten durch die Luft auskannten, waren für gewöhnlich in anderen Bereichen nicht sehr fähig.
»Der kommt aus
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