Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)
und sorgte dafür, dass sie an Ort und Stelle festwuchsen. Rasch entschied er, dass es schnellere Möglichkeiten gab, ihr Schmerz zu entlocken – wenn auch zulasten der Gründlichkeit.
»Wem will ich hier etwas vormachen?«, fragte er sich. »Ich habe gar nicht die Geduld, hier ungesehen zu lauern, während du trauerst! Ha.«
Er winkte in ihre Richtung und setzte sie in Bewegung. Sie stolperte zur Hütte.
»Halt!«, schrie sie. »Halt!«
Er warf einen Blick auf die toten Kinder und ließ die Leichen hinter ihr herschweben.
»Ich finde, wir sollten deine Jungen auf dem Tisch aufbahren«, erklärte er der hysterischen Frau, »damit sie sehen können, was ich dir antue.«
Er hüpfte die Stufen zur Veranda hinauf, öffnete die Tür, trat zur Seite und bat die anderen mit einer Geste hinein.
»Tretet nur ein.«
Die taumelnde Frau kreischte wortlos.
»Ach«, sagte er, »verstehst du das denn nicht? Ich will nur glücklich sein. Möchtest du nicht, dass ich glücklich bin?«
Er nahm sie alle mit ins Haus.
DIE REINE WAHRHEIT
Rostigan zog kräftig an seiner Pfeife und füllte die Lunge mit Rauch. Eigenartigerweise genoss er das heiße, schädliche Kribbeln.
Hier, in einer dunklen Ecke des belebten Wirtshauses, beachtete ihn niemand. Für gewöhnlich sorgten seine ernste Miene und das große Schwert schon dafür, doch heute Abend waren die Leute sehr unruhig. Sie alle trieb um, was sie während der letzten Tage gehört hatten. Das Dorf lag einige Tagesritte von Silberstein entfernt in der Ebene, und die Erzählungen von Reisenden über die verschwundene Stadt hatten die Menschen in Angst und Schrecken versetzt.
»Ich sag’s euch«, meinte ein Bauer am Nebentisch, »das ist einfach nicht natürlich.«
»Also, Borry, was für eine Erkenntnis!«, erwiderte ein Mann mit Pockennarben. »Eine ganze Stadt verschwindet, und du stellst fest, das sei nicht natürlich? Welcher Durchblick! Ein Wunder, dass du nur ein gewöhnlicher Bauer bist. Eigentlich solltest du ein berühmter Gelehrter sein.«
»Immer mit der Ruhe, Tanis«, sagte eine Frau, »das muss ja nun nicht sein. Wir machen uns alle Sorgen.«
»Ich mach mir keine Sorgen. Hat irgendwer von euch Silberstein gesehen?«
»Das ist ja das Problem«, meinte Borry. »Man kann es nicht sehen!«
»Ich meine, bei Kohle und Asche, hat jemand schon die Wahrheit dieser Behauptungen überprüft? Es könnte ja auch ein Reisender sein, der Lügen verbreitet.«
»Aber es war nicht nur einer. Es waren …«
»Mindestens drei«, fiel ihm die Frau ins Wort. »Drei, die nicht gemeinsam reisten.«
»Du meinst«, entgegnete Tanis, der sich noch mehr aufregte, »sie sind nicht gemeinsam angekommen. Vielleicht haben sie sich vorher auf der Straße getroffen und sich abgesprochen: ›Denken wir uns eine Geschichte aus, ehe wir einzeln in die Stadt gehen, damit die dummen Esel keinen Verdacht schöpfen. Was für ein herrlicher Spaß, ihnen einen Schrecken einzujagen!‹«
»Glaub doch, was du willst«, sagte die Frau. »Ich habe den Blick in seinen Augen gesehen, und ich sage dir, der Mann hat geglaubt, was er gesehen hat. Er sagte, es habe eine Stimme in der Luft gelegen … als würde sie schweben.«
»Pah!«
Die Redner sprachen immer lauter, und auch an den anderen Tischen wurde man aufmerksam.
»Ich habe es auch gehört«, warf jemand ein. »Geisterworte. Keiner ist dort, der sie spricht.«
»Und was ist mit den Gerüchten aus dem Norden?«, fragte ein jüngerer Mann. »Heute war ich in Yar, und es heißt, Braston herrsche wieder in Althala!«
»Genau«, sagte Borry. »Das habe ich auch gehört, Klion.«
»Sicherlich«, spottete Tanis und deutete mit dem Daumen auf Klion. »Du hast es von ihm.«
»Und Yalenna auch – angeblich ist sie im Tempel der Stürme wieder zum Leben erwacht!«
Rostigan hielt die Gerüchte leider nicht für falsch. Er wusste, dass einer der Wächter von den Toten auferstanden war, und wenn es der Diebin gelungen war, warum dann nicht auch den anderen?
Borry teilte anscheinend seine Gefühle. »Wächter«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Die Große Magie hat sie zurückgebracht, so sieht das für mich aus. Und wenn Braston und Yalenna wieder da sind, warum nicht auch … aber das will ich gar nicht aussprechen.«
»Wir wissen alle, wer Dinge gern unausgesprochen in der Luft hängen lässt«, sagte die Frau.
»Ich glaube es einfach nicht«, murmelte Tanis. »Du erzählst Ammenmärchen!«
»Pferdescheiße«, erwiderte Borry. »Die
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