Der Herr der Unruhe
sie brechen durch«, spornte Nico den Meister und seine Frau an. Obwohl die No-256
vemberkälte auch auf dem Dachboden Einzug gehalten hatte, schwitzte er aus allen Poren.
Ein zweiter Stoß ließ die Tür erbeben. Endlich kam der
Schrank davor zum Stehen. »Stemmt euch dagegen!«, flüsterte Nico.
Schlag Nummer drei donnerte gegen das massive Holz.
»Ein Glück, dass sie früher so stabil gebaut haben«, hauchte Johan.
»Glück allein wird uns nicht retten«, gab Lea zu bedenken.
Als es zum vierten Mal polterte, wurden sie alle ein Stück weit zurückgestoßen. Schnell verstärkten sie den Druck auf die Barri-kade. Undeutlich drang eine Stimme durch die Tür.
»Ich rufe die Polizei, wenn Sie nicht sofort von da oben verschwinden. Der Revierleiter ist ein Freund von mir.«
»Das ist Bruno«, sagte Lea hoffnungsvoll. Sie meinte den
kunstliebenden Nachbarn Grimschitz.
»Halt’s Maul!«, antwortete ein Unbekannter.
»Sie landen alle im Knast. Ich geh jetzt und ruf das Revier an.«
Im vierten Stock krachte eine Tür ins Schloss und die in der Etage darüber zum fünften Mal.
»Das ist schon ein Angriff mehr, als du prophezeit hast«, machte Johan seinem Gesellen Mut.
Nico verzog das Gesicht, was in der Dunkelheit niemandem
auffiel. »Der Pharao hat auch erst nach zehn Plagen klein beige-geben.«
Die Tür erzitterte abermals.
Sich weiter gegen die Marmorplatte stemmend, streckte Nico die Hand aus.
»Was hast du vor?«, raunte Johan.
»Wart’s ab.« Die Linke des Jungen erreichte den Lichtschalter.
»Nicht!«, zischte der Meister in Verkennung von Nicos Ab-
sichten.
Denn plötzlich verschwand der gelbe Schimmer aus dem
Schlüsselloch.
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»Schaltet mal jemand das Licht ein?«, nörgelte die Reitpeitsche.
»Schon versucht, aber es ist kaputt«, antwortete eine leisere Stimme von unten.
»Dann holt eine Handlampe.«
»Du hast gesagt, heute Nacht brauchen wir nur Fackeln.«
»Auch Recht. Her damit.«
»Die sind alle unten. Wegen der Brandgefahr.«
Nun meldete sich Horst zu Wort. »Bestimmt ist das wieder
dieser Hexer.«
»Trottel!«, zischte der Dünne. »Jetzt mach endlich die verdammte Tür auf.«
»Sie könnten bewaffnet sein. Im Dunkeln ist schlecht kämpfen«, gab ein anderer zu bedenken.
»Wir sind in der Überzahl.«
»Aber blind«, sagte Horst.
»Sie etwa nicht?«
»Zauberer können auch im Dunkeln sehen.«
»Herrjemine! Du bringst mich noch zur Verzweiflung.«
»Lasst uns verschwinden«, schlug eine Fistelstimme vor.
»Vielleicht hat der Bursche da unten ja tatsächlich die Polizei gerufen. Wozu hier die Zeit verschwenden und Scherereien riskieren, wenn unsere Liste noch so lang ist?«
Ein zustimmendes Gemurmel erklang.
Zum siebten und letzten Mal krachte die Tür, allerdings hörbar schwächer als zuvor. Es musste wohl die Reitpeitsche gewesen sein, die mit dem Hieb ihrer Enttäuschung Ausdruck verliehen hatte. Ungezählte Füße polterten die Treppe hinab.
Nico sank erschöpft auf die Kommode herab. Seine erhitzte Wange lag auf der kühlen Steinplatte, als er stöhnte: »Das war nun wirklich knapp!«
Als der Eisenbahnzug endlich anruckte, fühlte sich Nico auf eine zwiespältige Weise befreit. Er und die Mezeis blickten mit gemischten Gefühlen auf die Stadt, die mehr oder weniger lang 258
ihr Zuhause gewesen war. Jetzt rollte eine Verhaftungswelle durch das Land, der sie genauso knapp entgangen waren wie dem Mob vor zwei Tagen. Die gleichgeschaltete Presse hatte bisher wenig über die so genannte »Reichskristallnacht« verlauten lassen.
Dem Vernehmen nach habe sich der Volkszorn am Attentat
eines Juden entzündet, das dem Sekretär der deutschen Botschaft in Paris ein vorzeitiges Ableben beschert hatte. Der jüdische Schüler Grynspan sei am 7. November als Täter festgenommen worden. Nico traute den Nationalsozialisten durchaus zu, das alles nur inszeniert oder zumindest, wenn es denn stimmte, als Vorwand für eine reichsweite Aktion missbraucht zu haben. Ein ehemaliger Kunde, den er am Donnerstagmorgen getroffen hatte, ließ jedenfalls eine dementsprechende Bemerkung fallen. Sein Nachbar, flüsterte er, der sei Führer des örtlichen SS-Sturms und der habe angeblich schon vor Ausbruch des Pogroms davon gewusst. Allein die Eindrücke aus Nicos unmittelbarer Umgebung hatten ihn den Zynismus in der bagatellisierenden Umschreibung
»Kristallnacht« wie bittere Galle schmecken lassen. Das Glitzern zerbrochener Schaufenster war noch harmlos im Vergleich zu den
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