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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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brennenden Synagogen, den entweihten Thorarollen, den geplünderten und zerstörten Geschäften, den misshandelten und vergewaltigten Menschen. Und den Toten. Ja, der »spontane«
    Volkszorn hatte auch Menschenleben gekostet. Wie viele, das wagte sich Nico nicht auszumalen.
    Als der Zug am Mittag des 13. November 1938 die Grenze nach Italien passierte, wähnten sich die Flüchtlinge endlich in Sicherheit. Johan Mezei öffnete seine braune Aktentasche und zog eine kleine, in hellblaues Papier eingeschlagene Schachtel hervor. Ein goldenes Band entlarvte sie eindeutig als Geschenk.
    »Hier, das ist für dich«, sagte der Meister.
    Nicos Kopf schaukelte auf seinen Schultern, während der Zug über seinem sprachlosen Staunen wohl an die tausend Meter zu-rücklegte.
    »Nun nimm es schon. Es gehört dir«, ermutigte ihn Lea.
    Der Junge griff still nach dem Kästchen und öffnete die Ver-259
    packung. In der hellgrauen Pappschachtel lag, gebettet auf einem dunkelblauen Filztuch, eine silberne Taschenuhr. »Aber das ist ja …«
    »Meine Lebensuhr«, sagte Johan. Das Erstaunen des Jungen
    bereitete ihm sichtlich Freude.
    »So ein wertvolles Geschenk kann ich nicht annehmen. Au-
    ßerdem habe ich dir doch damals gesagt, dass du sie nicht zu fürchten brauchst. Sie ist …«
    »Niklas«, unterbrach der Meister ihn mit milder Strenge.
    »Lass uns nicht darüber streiten. Mir ist wohler, wenn du die Uhr nimmst. Du hast ihr Herz wieder zum Schlagen gebracht, und solange sie dir gehört, wird sie nicht stehen bleiben, dessen bin ich gewiss. Ich finde, das ist Grund genug, sie zu deiner Lebensuhr zu machen.«
    Nico klappte die Taschenuhr auf, bewunderte das schlichte, weiße Metallzifferblatt mit den scharf gezeichneten arabischen Ziffern, die grünlichen Leuchtmarkierungen zur Orientierung in der Nacht, den munter kreisenden Sekundenzeiger, und dann entdeckte er die frische Gravur auf der Innenseite des Deckels.
    »Zeit ist Leben und Leben ist Zeit.«
    Für Nico, den Liebling nicht allein der leblosen Dinge, von Johan und Lea,
    denen du zum Sohn geworden bist.
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    Rom, 1943

    nwirsch blickte Nico auf das Zifferblatt seiner Taschenuhr.
    UEs war bereits kurz vor elf. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, fischte einen zerknitterten Zettel hervor und prüfte noch einmal die mit dem Kunden für diesen Morgen getroffenen Ver-einbarungen:

    Palmiro Madesani
    Via Tiburtina 113 (San Lorenzo)
    Breguet-Taschenuhr: gold, autom. Aufzug
    mit Gangreserveanzeiger
    Tourbillon-Lagerung überprüfen
    Auslieferung: Freitag, 19. Juli 1943, 10.30 Uhr

    Alles stimmte. Der Witwer musste ihn versetzt haben. Nico stopfte den Zettel in die Brusttasche zurück. Er würde noch bis elf warten und dann nach Hause zurückmarschieren. Die Strecke vom Viertel Trastevere zu der geschichtsträchtigen Via Tiburtina im Stadtteil San Lorenzo war nicht gerade eine Weltreise, aber wenn man sie zu Fuß zurücklegen musste, auch kein Pappenstiel.
    Nico hielt seinem Kunden das Alter zugute; er schätzte Signor Madesani auf mindestens siebzig. Der pensionierte Staatsdiener hatte selbst eingeräumt, dass er seit dem Tod seiner Ehefrau vor sieben Jahren – sie war eine berühmte Schriftstellerin gewesen –
    »immer ein wenig durch den Wind« sei.
    Er verließ die Wohnungstür, um sich durch das schmale Fenster im Zwischenstock das bunte Treiben auf der Straße anzusehen.
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    Das Wohnhaus stand gegenüber dem Campo Verano, einem gro-
    ßen Friedhof.
    Nach einigen Minuten des Wartens zog er den Karton mit der Uhr des Kunden aus der Tasche. Es war ein einzigartiges Stück wie wohl alle Schöpfungen des großen Abraham Louis Breguet. Eine seiner Uhren zu tragen vermittelte einem das Gefühl, das Gehirn eines Genies in der Tasche zu haben. Ohne das Andenken an seinen Vater und Meister Mezei schmälern zu wollen, war Breguet Nicos großes Vorbild. Vielfach kopiert, nie erreicht – diese oft strapazierte Floskel traf auf den im schweizerischen Neuenburg geborenen Uhrmachermeister ohne Einschränkung zu. Nicht
    ohne Grund hatte er seine Zifferblätter, gewöhnlich zwischen der Befestigungsschraube und der Zwölf, mit einem Diamantstift signiert. Diese Geheimmarkierungen waren nur unter einem bestimmten Blick- und Lichteinfallswinkel zu lesen. Das Exemplar in Nicos Händen besaß darüber hinaus ein Zertifikat von George Brown in Paris, der die Aufzeichnungen über sämtliche etwa sechstausend von Breguet hergestellte Uhren verwahrte.
    Nico verstand es als großen

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